Die Psychotherapie ist im Gesundheitswesen ein relativ neues Berufsfeld. Die kaum hundert Jahre alte Bezeichnung hat die Menschheit Sigmund Freud zu verdanken. Die Psychoanalyse war nach Sigmund Freud bis zur Hälfte des vorigen Jahrhunderts die vorherrschende Behandlungsform, wenn auch nur für ausgewählte Patienten. Der Durchbruch gelang der Psychotherapie in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, als völlig verschiedene psychotherapeutische Methoden nebeneinander, durcheinander und vor allem auch gegeneinander angeboten wurden. Paul Verhaeghe ergänzt: „Wenn die verschiedenen Therapeuten überhaupt etwas gemein hatten, dann war es ihre Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft, zu der sie übrigens auch die Psychoanalyse zählten.“ Ihr Ziel war es, die Patienten von bevormundenden Strukturen zu befreien, Gesundheitssystem inklusive. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.
Die Psychiatrie ist heute ein Teilbereich der Neurowissenschaften
Ironischerweise lautete eine zentrale These gerade Sigmund Freuds, die viktorianische Gesellschaft mache krank und sei unter anderem schuld an den Neurosen jener Zeit. Paul Verhaeghe fügt hinzu: „Obendrein war der gesamte medizinische Sektor, zu dem auch die Psychotherapie gehörte, durchdrungen von einem religiösen Paternalismus.“ Der Befreiungstherapeut der Sechzigerjahre wollte mit Sigmund Freud nichts zu tun haben, er wollte die Schafe sowohl von der Herde als auch vom Schäfer befreien – wobei die entfremdete Gesellschaft die Herde darstellte, während der Patriarch, in dessen Namen all das geschah, der Schäfer war.
Heute versteht sich die Psychiatrie als Teilbereich der Neurowissenschaften und ist zu einem respektierten Sektor des Gesundheitswesens aufgestiegen. Die Herangehensweise ist evidenzbasiert, womit gemeint ist, dass es überzeugende wissenschaftliche Belege (Evidenz) für die Wirksamkeit einer Behandlung gibt. Eine Behandlungsform, die anfangs nur wohlhabenden Bürgern vorbehalten war, steht nun so tut wie allen zur Verfügung, da die Kosten psychotherapeutischer Behandlung häufig von den Krankenkassen übernommen werden.
Nicht jede Psychotherapie ist erfolgreich
Sigmund Freud nannte Psychotherapie einen unmöglichen Beruf. Gegenwärtig ist die Therapieform zwar sehr erfolgreich, dennoch nimmt die Unmöglichkeit immer deutlichere Formen an. Häufig scheitert die Psychotherapie – und somit der Psychotherapeut –, weil die Erwartungen zu hoch sind. Dazu kommt, dass die Ursachen persönlicher Probleme in der Tat immer häufiger gesellschaftlicher Natur sind. Wenn jemand psychische Probleme hat, weil er trotz eifriger Suche keine Arbeit findet und dafür noch als Schmarotzer bezeichnet wird, erhält er beim Psychotherapeuten keine zufriedenstellenden Antworten.
Paul Verhaeghe stellt fest: „Im schlechtesten Fall spielt Psychotherapie dann dieselbe Rolle wie ein Beruhigungsmittel für eine von ihrem Mann misshandelte Frau; dank der Pillen nimmt sie den Missbrauch kaum mehr wahr und versinkt immer tiefer in einer höchst ungesunden Umgebung.“ In beiden Fällen (existentielle und gesellschaftliche Probleme) wird dem Psychotherapeuten eine Expertenrolle zugewiesen – die des Lehrers also – der er unmöglich ausfüllen kann. Das macht Therapeuten krank. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe
Von Hans Klumbies