Sex hat als Machtmittel weitgehend ausgedient

Die patriarchale Autorität dominiert die Sexualität. In einer patriarchalischen Gesellschaft wird die Erotik als schlecht, unmoralisch und verwerflich gebrandmarkt, und die Frau gleich mit dazu, weil sie die Begierden aus dem Mann herauskitzelt. Paul Verhaeghe weiß: „Mit dieser Rollenverteilung wies das Patriarchat der Frau unbeabsichtigt eine ordentliche Portion Macht zu, von der „femme fatale“ bis zum „Schatz, heute nicht, ich habe Kopfschmerzen“. Und diese Macht wiederum erklärt die männliche Aggression gegen die Frau.“ Sex kann auch als Waffe eingesetzt werden, auch wenn dies mittlerweile aus der Mode gekommen ist, weil sie die moderne Haltung zur Sexualität dank Emanzipation und Pille völlig verändert hat. In der Menschheitsgeschichte jedoch kann eine Frau erst seit einem halben Jahrhundert unbekümmert Sex genießen und somit auch unmissverständlich danach verlangen. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

Erotik beschränkt sich nicht auf die Ehe

Sobald Sex und Schwangerschaft entkoppelt waren, wurde auch die Verbindung zu Alter und Geschlecht etwas gelockert. Paul Verhaeghe erläutert: „Sex beschränkt sich nicht auf die Jahre, in denen wir uns fortpflanzen können, wir beginnen viel früher und wir tun es, solange wir können. Erotik beschränkt sich nicht auf die Ehe und selbst nicht auf ein Mann-Frau-Paar desselben Alterns.“ Ältere Frauen tun es mit viel jüngeren Männern und umgekehrt. Gleichgeschlechtlicher Sex ist kein Tabu mehr.

Sowohl Männer als auch Frauen haben mehr Sex uns Sexpartner als früher. Als Folge davon hat Sex als Machtmittel weitgehend ausgedient. Auch Frauen können nun die Bittsteller sein, und auch Männer können auf diesem Gebiet in eine Machtposition geraten. Im Westen konnte die erste Generation Frauen heranwachsen, für die Sexualität kein Grund zur Angst ist. Die Folgen davon kann man mittlerweile gut beobachten. Frauen machen sich selbst auf die Suche nach einem Partner und nehmen beim Sex ausdrücklich eine aktive Position ein.

Viele Männer halten noch an der patriarchalischen Doppelmoral fest

Paul Verhaeghe erklärt: „Dass viele Männer damit nicht umgehen können, zeigt, wie sehr sie noch an der patriarchalischen Doppelmoral festhalten (der sexuell aktive Mann ist ein Playboy, sein weibliches Pendant eine Schlampe).“ Das Schwinden der patriarchalen Autorität war auf der sexuellen Ebene überaus befreiend. Dennoch betrachten manche diese Befreiung als moralisches Desaster und finden, sie sei die Ursache dafür, dass zwei von drei Ehen scheitern und Beziehungen sich so mühsam gestalten.

Sie verstehen nicht, dass die Erklärung dafür woanders liegt, beispielsweise in der vorangetriebenen Individualisierung und den den Menschen auferlegten Normen des freien Marktes, die sich auch auf das Beziehungsleben auswirken. Die Menschen investieren in Beziehungen auf einem Heiratsmarkt nach dem Motto: „Wer ist das beste Angebot?“ Die Wahl des Partners findet häufig auf Internetplattformen statt, bei denen die potentiellen Kandidaten auf Basis der gefragten Eigenschaften in eine Rangordnung gebracht werden. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe

Von Hans Klumbies

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