Als politische Ordnung will die Demokratie möglichst vielen Menschen möglichst viel Gleichheit bieten. Doch zugleich will sie der individuellen Freiheit eines jeden Rechnung tragen. Paul Verhaeghe ergänzt: „Im Streben nach und womöglich im Erzwingen von Gleichheit wird dem Individuum jedoch Gewalt angetan. Umgekehrt wird durch das Respektieren von Individualität die Gleichheit angegriffen.“ Jacques Derridas pragmatische Schlussfolgerung lautet, dass Demokratie niemals vollständig realisiert werden kann, es geht ausschließlich immer um eine kommende Demokratie. Sie kommt in Etappen und ohne einen definitiven Endpunkt. Demokratisierung ist nach wie vor „work in progress“, ein Prozess, bei dem man vor allem das Ziel vor Augen haben muss. Das Ziel ist, dass der „demos“, das Volk sich selbst regiert. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.
Die Gewählten nehmen immer weniger Rücksicht auf ihre Wahlversprechen
Das beinhaltet, dass man aus politischer Sicht Menschen als gleichwertig betrachtet, obwohl man genau weiß, dass sie sehr unterschiedlich sind. Hier stößt man zugleich auf die Bedeutung und sogar auf die Notwendigkeit von Autorität. Autorität dient dazu, die zwischenmenschlichen Beziehungen zu regeln. Paul Verhaeghe erläutert: „Die Autorität, die zu Demokratie gehört, regelt diese Beziehungen im Sinne der Gleichwertigkeit und respektiert dabei die individuelle Freiheit. Demokratisierung ist ein anhaltender Prozess, bei dem Demokratie immer wieder neu erfunden werden muss, um ihrem doppelten Ideal, Gleichheit und Freiheit, gerecht zu werden.
Für diesen Prozess waren allgemeine Wahlen eine wichtige und äußerst wertvolle Etappe. Doch dies ist für Paul Verhaeghe nun vorüber. Im Augenblick haben Wahlen sogar einen antidemokratischen Effekt, und zwar aus mehreren Gründen. Wahlen sind nicht mehr demokratisch organisiert, denn die Gewählten entstammen kleinen, selektiven Grüppchen. Überdies nehmen die „vom Volk gewählten“ immer weniger Rücksicht auf ihre Wahlversprechen und den Willen der Mehrheit. Es gibt aber noch fundamentale Gründe: Aufgrund von Forderungen nicht-demokratischer Instanzen bürden Regierungen ihrem Staatsvolk Maßnahmen auf, die die Ungleichheit vergrößern. Das verstößt unmittelbar gegen das demokratische Ideal.
Die Ungleichheit wächst und die Demokratie nimmt ab
Mit vielen anderen Kritikern ist sich Paul Verhaeghe davon überzeugt, dass ein Wendepunkt erreicht ist. Um der Erbaristokratie Einhalt zu bieten, waren Revolutionen nötig. Das allgemeine Wahlrecht wurde erst nach Demonstrationen und Streiks eingeführt, bei denen auch Menschen zu Tode kamen. Bei jedem Übergang werden die Machtverhältnisse neu gemischt und können danach in eine demokratische Richtung gehen oder in eine antidemokratische. Heute wächst die Ungleichheit und die Demokratie nimmt ab, und als Folge nehmen Widerstand und Protest zu.
An der Basis einer neuen Autorität liegt immer eine ursprüngliche Form der Gewalt gegen die vorherige Autorität. Paul Verhaeghe erklärt: „Das ist am wachsenden Widerstand einer Gemeinschaft gegen den Staat zu erkennen, der aus seiner Machtposition neue soziale Beziehungen erzwingt.“ Im besten Fall entwickelt sich dies hin zu einer neuen Ausrichtung der Autorität, auch auf politischem Gebiet. Dabei wird „rechtsetzende“ Gewalt, wie Walter Benjamin es nannte, notwendig sein. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Gewalt dabei möglichst begrenzt bleibt. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe
Von Hans Klumbies