Die Autorität steht seit der Aufklärung unter Beschuss

Viele Menschen, die mit den aktuellen gesellschaftlichen Veränderungen nicht einverstanden sind, machen das Schwinden der Autorität dafür verantwortlich. Konservative Stimmen klagen über den Untergang des Abendlandes, und manche suchen die Schuld bei den Ausländern. Damit meinen sie Muslime – ironischerweise Angehörige einer Glaubensgemeinschaft, die wesentlich mehr konservative Normen und Werte verkörpert, als die heutige westliche Gesellschaft, die deren Schwinden beklagt. Mit diesen Stimmen kann sich Paul Verhaeghe nicht identifizieren; zugleich jedoch ist auch ihm klar, dass der Westen mit Autorität ein Problem hat. Das aktuelle Wehklagen könnte den Eindruck erwecken, Autorität sei erst vor Kurzem zum Problem geworden. Aber weit gefehlt: Sie steht bereits seit der Epoche der Aufklärung unter Beschuss. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

Der Mensch muss sich aus der Unmündigkeit befreien

Das ist für Paul Verhaeghe nicht weiter verwunderlich, ist doch der Widerstand gegen die Obrigkeit ein Teil der menschlichen Identität: „Was wir auf individueller Ebene tun – kritisch untersuchen, welchen Spiegel uns der andere vorhält –, tun wir auch im Kollektiv.“ Schon Immanuel Kant sah einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung eines Kindes und der Entwicklung der Menschheit. Genau wie das Kind ist die Menschheit „unmündig“, und aus dieser Unmündigkeit muss sich der Mensch befreien. Wem das gelingt, der erwirbt sich Autonomie und kann selbst Entscheidungen treffen.

Zur Zeit der 68er-Bewegung rief Autorität vor allem negative Assoziationen hervor. Egal, ob es sich dabei um autoritäre Herrscher, ultrastrenge Patriarchen, Polizisten und Grenzbeamte oder Diktatoren wie Franco oder Pinochet handelt. Autorität, so meinte man, sie per se verwerflich und gehöre abgeschafft. So kam die – im Rückblick – sehr naive Idee auf, der Mensch sei ohne Autorität besser dran, eine Gemeinschaft organisiere sich ohne Autorität selbst spontan so, wie es für alle von Vorteil ist. Kommunen brauchen keine Regeln, es lebe die Freiheit.

Aktuell gewinnt der Ruf nach Autorität wieder an Boden

Dieses Denken geht auf einen anderen Philosophen der Aufklärung zurück, nämlich auf Jean-Jacques Rousseau und sein Konzept des „edlen Wilden“. Jean-Jacques Rousseau war ein leidenschaftlicher Gegner der modernen Zivilisation und der Stadt, die seiner Meinung nach die Idylle nur zerstören konnte. Paul Verhaeghe stellt fest: „Kein Wunder also, dass die Umweltbewegung der Siebzigerjahre gerne auf seine Gedanken zurückgriff. Zivilisation und Technik sind schlecht, Autorität ist gleichbedeutend mit Diktatur – zurück zur Mutter Natur, lautete die Botschaft.“

Aktuell gewinnt der Ruf nach Autorität wieder an Boden – die man vor nicht allzu langer Zeit loswerden wollte. Vor einem halben Jahrhundert schrieben Psychotherapeuten praktisch jede psychische Störung den autoritären Vätern zu – also weg mit ihnen. Heute hört man genau das Gegenteil, und manche Psychoanalytiker wollen den Vater in seiner ganzen autoritären Herrlichkeit wieder einsetzen. Wie populär dieses Denken ist, zeigt sich bei jeder Wahl. Sobald eine politische Partei „law and order“ verspricht, steigen die Umfrageergebnisse. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe

Von Hans Klumbies