Autorität beruht immer auf Moral

In einer verunsicherten Gesellschaft wird der Ruf nach Autorität immer lauter: nach einem starken Staat und klar definierten Werten und Normen – die nicht zuletzt in der Kindererziehung wieder für klare Verhältnisse sorgen soll. Der belgische Psychoanalytiker Paul Verhaeghe untersucht in seinem Buch „Autorität und Verantwortung“ den rasanten Wandel der Werte in den westlichen Gesellschaften unter dem Diktat der neoliberalen Ökonomie und analysiert, warum sich viele Menschen eine neue Form von Autorität wünschen. Wie sie funktionieren kann, zeigt er an ermutigenden Beispielen von Netzwerken und Gruppen mit flachen Hierarchien. Für Paul Verhaeghe betrachtet die Identität eines Menschen als ein Konstrukt, das sich lebenslang entwickelt. Die Identität entwickelt sich aus zwei sehr unterschiedlichen, sogar entgegengesetzten Prozessen. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

In jeder Form von Autorität steckt auch ein Aspekt von Macht

Die Identität ergibt sich aus der Beziehung zum anderen Geschlecht. Auch die Beziehung zur vorangegangenen Generation prägt die Persönlichkeit. Als Erwachsener entwickelt man seine eigene Art, Autorität auszuüben. Weiter wird das Selbst noch durch das Verhältnis zu Gleichgestellten bestimmt – Altersgenossen, Nachbarn, Kollegen. Paul Verhaeghe vertritt die These, dass jede Identität auf eine Ideologie zurückzuführen ist. Viele Menschen haben in der heutigen Zeit Probleme mit ihrer Identität, was zum Teil auf den rapiden Wandel gesellschaftlicher Werte und Normen zurückzuführen ist.

Autorität besitzt man niemals als Einzelner, als Individuum. Autorität kann man nur aufgrund von etwas verkörpern, das den Einzelnen übersteigt. Autorität beruht immer auf Moral, ein Zwang, gegossen in Normen und Werte, mit denen eine Gemeinschaft die Beziehungen ihrer Mitglieder regelt. In jeder Form von Autorität steckt auch ein Aspekt von Macht. Autorität braucht Macht, um das gewünschte Verhalten durchzusetzen. Die Suche nach dem Ursprung von Autorität führt allerdings zu keiner überzeugenden Antwort.

Die Rückkehr eines Führers ist reine Einbildung

Die traditionelle patriarchale Autorität ist heute so gut wie verschwunden, und damit auch die aus ihr folgende freiwillige Unterwerfung unter bestimmten Konventionen. Die Auswirkungen sind auf den verschiedensten Gebieten spürbar – Notärzte und Schaffner können ein Lied davon singen. Dass Autorität am besten auf Wissen gründet, liegt für Paul Verhaeghe auf der Hand und gilt dementsprechend auch für eine horizontal organisierte Autorität. Um zu bestimmen, in welche Richtung sich eine Gesellschaft entwickeln soll, benötigt man moralische Entscheidungen.

Mit seinem Buch „Autorität und Verantwortung“ macht Paul Verhaeghe vor allem die theoretischen Grundlagen deutlich, wie genau Autorität funktioniert. Und auch auf welche Weise sie scheitert und auf reine Macht zurückfällt. Ein besseres Verständnis dieser Struktur bewahrt die Menschen vor einer zum Scheitern verdammten Rückkehr zu einer patriarchalischen Version von Autorität. Das große Risiko einer Autorität, die auf einer Gruppe beruht, lässt sich leicht vorhersehen. Der Zusammenhalt einer Gruppe gründet häufig darauf, sich gegen andere Gruppen abzugrenzen, und das kann grausame Formen annehmen. Paul Verhaeghe beschließt sein Buch mit folgenden Sätzen: „Es gibt keinen Führer mehr, er ist tot, und seine Rückkehr ist reine Einbildung. Wir müssen selbst aktiv werden.“

Autorität und Verantwortung
Paul Verhaeghe
Verlag: Kunstmann
Gebundene Ausgabe: 254 Seiten, Auflage: 2016
ISBN: 978-3-95614-127-0, 24,00 Euro

Von Hans Klumbies

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