Paul Verhaeghe ruft das Zeitalter der Frau aus

Die Geschichte des Patriarchats ist eine Chronik der Unterdrückung der Frau, sowohl sexuell als auch intellektuell, politisch und ökonomisch.“ Paul Verhaeghe sagt: „Es besteht eine direkte Linie von den Hexenverbrennungen im Mittelalter zu den Hysterikerinnen des 19. Jahrhunderts.“ Bis vor Kurzem rekrutierten die psychiatrischen Anstalten ihre Patienten hauptsächlich aus zwei Bevölkerungsgruppen: den unteren Schichten und den Frauen – nicht zufällig beides Gruppen am unteren Ende der Gesellschaftspyramide. Die erfolgreiche Emanzipation der Frau ist einer Kombination verschiedener Faktoren zu verdanken: dem Mut einzelner Frauen als Vorkämpferinnen, dem Fortschritt der Wissenschaft bei der Entdeckung von Verhütungsmitteln, dem Zerfall der Vaterreligionen, einem allgemein zugänglichen Bildungssystem und damit besseren Chancen am Arbeitsmarkt. Paul Verhaeghe lehrt als klinischer Psychologe und Psychoanalytiker an der Universität Gent.

Die weiblichen Rollenmuster waren soziale Konstrukte

Dadurch entstand in verschiedenen Kreisen und Gruppierungen ein verändertes Bewusstsein dafür, dass die herrschenden weiblichen Rollenmuster nichts anderes waren als eben soziale Konstrukte und überdies eine bestimmte Gesellschaftsordnung stützten, die die Hälfte der Bevölkerung stark diskriminierte. Paul Verhaeghe erklärt: „Die Idee der Rollenmuster entspringt meinem Bild von Identität als einem Konglomerat verschiedener sozialer Relationen, die wir durch Identifikation übernehmen.“

Solange das Patriarchat dominierte, galten die dazugehörigen sozialen Beziehungsformen ganz selbstverständlich. Viele Menschen glaubten, dies sei nun einmal die menschliche „Natur“ oder von Gott bestimmt. Die geltenden sozialen Beziehungen waren eine unumstößliche Realität, und wer sich gegen sie wandte, galt als Ketzer, als widernatürlich oder irrational. Die Erkenntnis, dass es sich nur um Rollen handelt, die den Menschen von der damals geltenden sozialen Ordnung und der dazugehörigen Autorität auferlegt wurden, öffnete den Weg zu einer neuen Gesellschaftsordnung.

Die Emanzipation der Frau geschieht oftmals unter Zwang

Wie diese neuen Beziehungsformen realisiert werden, illustriert, auf welche Weise Autorität neuerdings funktioniert. Die falsche Funktionsweise der Autorität gibt es bis heute. Paul Verhaeghe nennt Beispiele: „Etwa in Form gut gemeinter, aber darum nicht minder gönnerhafter Versuche, Frauen zur Emanzipation zu verpflichten. Mädchen müssen in gemischte Schulen gehen, Verschleierung und Kopftuch werden herablassend toleriert oder per Gesetz verboten. Als Konsequenz verweigern manche Frauen Bildung und fordern das Recht auf Tschador und Niqab.“

Die Emanzipation der Frau durch Zwang ist ein Beispiel für eine paternalistische Haltung: Wir wissen es besser, die anderen sind dumm oder naiv. Die zugrunde liegende Autorität ist nach wie vor patriarchal, und trotz des scheinbaren Fortschritts ändert sich in Wirklichkeit wenig bis nichts. Emanzipation von unten funktioniert hingegen durchaus: Dabei hält eine Gruppe von Gleichgestellten – in diesem Fall Frauen – anderen Frauen einen neuen Spiegel vor. Diese Autorität hat ihre Grundlage in einem horizontalen Kollektiv und nicht mehr in einem „Vater-weiß-es-besser“-Modell. Quelle: „Autorität und Verantwortung“ von Paul Verhaeghe

Von Hans Klumbies