Paul Nolte beleuchtet die Krisenanfälligkeit der Demokratie

„Demokratie ist immer in der Krise“, schreibt Paul Nolte. Zeiten, in denen ihre Selbstverständlichkeit nicht hinterfragt wurde, hat es seiner Meinung nach kaum gegeben – vor allem nicht in Europa. Und dennoch hat sich die Demokratie nach 1945 zu einer Art Standardmodell entwickelt, allerdings nur in Westeuropa. Am Ende des 20. Jahrhunderts eroberte die demokratische Freiheit sogar Osteuropa. Dennoch tauchten immer wieder Zweifel an der Tauglichkeit der Demokratie im Westen auf. In ihre tiefste Krise geriet die Demokratie laut Paul Nolte, als eigentlich alle Vorzeichen für ihren endgültigen Siegeszug über alle Kontinente sprachen. Der Durchbruch einer Massengesellschaft ebnete zum Beispiel alte soziale Hierarchien ein. Aber paradoxerweise galt die Demokratie plötzlich selbst in Deutschland als ein Auslaufmodell, das einer hochkomplexen und zugleich nivellierten Gesellschaft nicht mehr gerecht zu werden schien. Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin.

Politik ist nicht mehr die Sphäre einer kleine Elite

Auch am Ende des 19. Jahrhunderts schien die Demokratie auf einem unwiderstehlichen Vormarsch zu sein. Die Zeit der großen revolutionären Erhebung im Namen der Freiheit, Gleichheit und demokratischer Mitbestimmung des Volkes war zwar schon Geschichte, aber in den politischen Ordnungen herrschte zumindest bis zum 1. Weltkrieg Stabilität. Aber mit der Ruhe sollte es bald vorbei sein. Paul Nolte schreibt: „Umso dynamischer veränderten sich aber die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse unter dem Einfluss von Hochindustrialisierung und rasanter Verstädterung.“

Um 1900 beobachteten die Menschen, voller Euphorie oder Angst, dass in Gesellschaft und Kultur dramatische Veränderungen vor sich gingen. Auch das politische Leben geriet in Bewegung. Paul Nolte erklärt: „Die Möglichkeiten zur Mitgliedschaft in Vereinen, Parteien, Gewerkschaften hatten sich vervielfältigt; Politik war zum Massenphänomen geworden, nicht mehr nur die Sphäre einer kleinen Elite.“ Die Frauen- und die Arbeiterbewegung trieben die weitere Expansion von Teilhabe und Demokratie voran.

Innerhalb der Massengesellschaft entwickelte sich die Demokratie in zwei Richtungen

Auf der einen Seite wurden die modernen Gesellschaften immer gleichförmiger und nivellierter, auf der anderen Seite etablierten sich auch neue soziale Hierarchien. Ende des 19. Jahrhunderts stieg eine nationale Klasse auf, die nicht mehr in ihrer Heimatregion verankert war und für die eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation keine Rolle mehr spielte. Bis in die Kultur und Unterhaltung reichte diese Gegenbewegung zur demokratischen „Gleichmacherei“. So grenzte sich das bürgerliche Publikum zum Beispiel im Theater streng vom proletarischen ab.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts zog die neue Massengesellschaft den Trend zur Demokratisierung in zwei unterschiedliche Richtungen. Einerseits wirkte sie wie eine Befreiung, da sie den Menschen neue Spielräume, bis weit in die Privatebene hinein, eröffnete. Andererseits nährte sie vor allem bei jenen, die sich als besonders modern vorkamen, die fatale Einstellung, dass die Demokratie als Regierungsform dieser neuen Gesellschaft nicht mehr angemessen sei.

Von Hans Klumbies