Wenn sich Lebensweise, Erwartungen, Werte verändern, Wissenschaft und Technik neue Bedingungen des Lebens schaffen, versucht der Mensch die neuen Gesetzmäßigkeiten zu verstehen. Zudem versucht er sie mit den ihm vertrauten Gesetzen in Einklang zu bringen. Paul Kirchhof erläutert: „Er braucht Leitgedanken für sein Leben, Maßstäbe für sein Entscheiden, Methoden für sein Erkennen und Ziele für sein Wollen. Diese Gesetzmäßigkeiten findet er in der Natur und in der Menschlichkeit.“ Die Natur erschließt er sich vor allem durch Beobachten und Experimentieren, die Menschlichkeit durch Verständnis, Erfahrung, Einsehen und Beurteilen. Der Mensch bildet bewusst Regeln für das Zusammenleben, erprobt Verfahren der Willensbildung und Verständigung. Die Gesetze sind seit langem gewachsene, angeborene, in der Natur des Menschen von jeher angelegte Stützen menschlicher Freiheit. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.
Der Mensch gewinnt Herrschaft über die Natur
„Alle Menschen sind von Natur frei und unabhängig und haben gewissen angeborene Rechte.“ Das Grundgesetz hat ursprünglich die Garantie der Menschenwürde in Abs. 1 S. 1 mit der Natur des Menschen erläutert. Sie ruhe „auf ewigen, einem jeden von Natur aus eigenen Rechten“. Im Ergebnis blieb der Ursprung der Menschenrechte allerdings bewusst offen. Wen der Mensch sich auf ein Leben im Einklang mit der Natur einrichtet, beginnt der Kampf mit der Natur und für Kultur und Recht.
Paul Kirchhof fügt hinzu: „Er lockert seine Naturgebundenheit und gewinnt Herrschaft über die Natur. Er wird sich der Kraft seines Verstandes bewusst, wagt den Weg zur selbstbewussten Freiheit.“ Menschliches Denken greift über die Gesetzmäßigkeiten der Natur, der Biologie und Physik hinaus. Es entwickelt Verständnis für Recht, Frieden und Freiheit, entfaltet Poesie, Musik, Malerei, Theater. Der Mensch beherrscht seine Bedürfnisse, seine Triebe und Emotionen. Aber erkennt er auch die Torheit von Unterdrückung, Krieg und Terror?
Der Mensch schädigt die Natur und sich selbst
Doch der Einklang mit der Natur geht verloren. Der Mensch verfolgt in bewusster Subjektivität seine eigenen Ziele. Dabei sucht mancher, sich allgemeiner Verantwortlichkeit und Maßstabsgebundenheit zu entziehen. Er glaubt, er könne beliebig wollen, alles erwerben, nichts sei „unveräußerlich“. Er überschätzt sich, überbetont sein Ich und neigt dann vermehrt zu Zwang, Unrecht und Gewalt. Der Mensch schädigt die Natur und sich selbst. Paul Kirchhof hofft: „Mit dem Wissen wächst die Bescheidenheit des Wissenden.“
Der Wissende beobachtet, wie umweltbelastende Techniken das menschliche Leben gefährden. Die Atomspaltung hat Katastrophen in Tschernobyl und Fukushima verursacht. Die Gentechnik könnte die Identität des Menschen verändern. Paul Kirchhof stellt fest: „Der Mensch wird nicht mehr von der Natur beherrscht, sondern von anderen Menschen mit den Instrumenten der Natur.“ Deswegen fragt die Wissenschaft nicht nur: „Was kann der Mensch?“, sondern ebenso intensiv: „Was darf, was soll der Mensch?“ Quelle: „Beherzte Freiheit“ von Paul Kirchhof
Von Hans Klumbies