Gelassenheit zeichnet sich durch Augenblicke der Unaufgeregtheit aus

Die mittelalterliche Gelassenheit ist eng mit der Steigerung der inneren Gelöstheit verbunden. Der Mensch sollte dabei geistig aus seiner Zeit heraustreten und auch jede Gebundenheit in einem Ort verlassen. Er sollte jedes eigene Wollen, jedes eigene Anliegen, jeden Zweck seines Wirkens hinter sich lassen. Paul Kirchhof erläutert: „Aber auch die mittelalterliche Ortlosigkeit, Abgeschiedenheit, nimmt den Menschen nicht fiktiv aus jedem geografischen Raum heraus, sondern meint die Haltung, stets aufmerksam für seine Bestimmung zu sein.“ Diese Wegweisung weist nicht alles Irdische von sich. Sie sieht den innerlich freien Menschen durchaus im Rahmen der sich entwickelnden Städte. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

Die Menschen müssen auch das Unfassbare ertragen

Heute erscheint der Mensch gelassen, der sich und seine Umgebung so annimmt, wie sie ist. Der sich zutraut, die ihm im Leben gestellten Aufgaben zu meistern und der sich darauf besinnt, sein Leben in Kultur, Familie, Erwerb und Staat zu führen. In diesem Anerkennen dessen, was ist, bleibt der Mensch in Raum und Zeit. Er sucht allerdings Orte und Augenblicke der Unaufgeregtheit, der Ungebundenheit, auch des Alleinseins und der Distanz.

Paul Kirchhof stellt fest: „Gelassenheit ist die Durchlässigkeit für das Meer unseres Erlebens und Erfahrens allein in der Allgemeinheit sinnstiftender Kultur.“ Bei aller Freude an Erfahrung und Vernunft müssen die Menschen auch das Unfassbare, das nicht Erfahrbare, das Universale, die Ewigkeit ertragen. Das Unsichtbare kann nicht sichtbar gemacht, das Unaussprechliche nicht ausgesprochen, das Unbegreifbare nicht in Bildern begriffen werden. Es gehört zur menschlichen Vernunft, es beim Staunen, beim Erahnen, beim Empfinden und Ertasten zu belassen.

Selbstvergessenheit kann glücklich machen

Nur der Mensch kann sprechen und sich ein Bild von der Welt machen. Er kann hoffen und träumen, sich erinnern und in die Zukunft vorausdenken. Er besitzt das, was man Freiheit und Unabhängigkeit von Kausalitäten nennt. Paul Kirchhof stellt fest: „Wir brauchen ein Denken, das die eigenen Grenzen kennt, sie aber im Ungewissen lässt. Wir sind innerlich bereit, uns auf das Ungewisse einzulassen. Vielleicht macht uns diese Selbstvergessenheit glücklich.“

Einzelne Menschen können das den Menschen Übersteigende bei einem Sonnenaufgang erleben. Andere im Unterbrechen des Alltäglich durch eine Stunde der Muße. Wieder andere bei dem Blick in das Gesicht eines Kindes, bei einem geglückten Wort oder in der Hingabe an die Kunst. Mittelalterliche Mystik und moderne Methoden der Mitmenschlichkeit sind Versuche des Sichselbstübersteigens. Sie sind gleichzeitig das Ausbrechen aus Bedingtheit und Endlichkeit im Verlangsamen des Lebens, des beglückenden Augenblicks. Quelle: „Beherzte Freiheit“ von Paul Kirchhof

Von Hans Klumbies