Die Zeit der Gelassenheit scheint mit dem Älterwerden verbunden zu sein. Das Kind sucht noch durch Beobachten und Nachahmen seinen Platz in der Familie und in seiner Gruppe. Der Jugendliche will seiner Generation zugehören, mittendrin im Geschehen sein. Paul Kirchhof erklärt: „Er entdeckt die wachsenden Fähigkeiten seines Denkens und Verstehens, seiner Körperkraft, seiner Argumentations- und Überzeugungskunst, seiner Chance, in seiner Gruppe aufzurücken.“ So bleibt er im Rudel, beginnt aber auch, sich innerlich zu entfernen. Er fängt an, Vorstufen der Gelassenheit zu üben. Wenn der Mensch dann in die Phase der beruflichen und studentischen Qualifikationen kommt, mehr er seine Fähigkeiten, findet seinen Platz in Weltlichkeit und Gesellschaft. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.
In der Gründungsphase herrscht ein scharfer Wettbewerb
In der Gründungsphase für Familie und Beruf nutzt der Mensch die ihm gebotenen Möglichkeiten, sich ein berufliches Fundament zu schaffen und einen Partner fürs Leben zu gewinnen. Er sieht sich aber auch im Wettbewerb um diese Chancen und deren Realisierung aufs Äußerste gefordert. Im Übergang vom Können zur Tat sucht er Ruhepunkte, Geruhsamkeiten. Diese sollen Anspruch, Bewährungsproben, Wettstreit und Aufstieg unterbrechen, ihm ein Innehalten erlauben, um Kräfte zu sammeln.
Gelegentlich prüft er die Richtigkeit seiner Zielsetzungen. Vielleicht sind die Ehe und die Gründung einer Familie der beherzte Ausdruck einer lebensnahen Gelassenheit. Einheit in der Zweiheit und Familiengemeinschaft bieten eine sichere Basis, sich aus der Turbulenz zur Selbstgewissheit zu entwickeln. Paul Kirchhof stellt fest: „Der Mensch ist in der Gründerzeit auf dem besten Weg zur Gelassenheit. Seine Fähigkeit zur Freiheit wächst.“ Mit zunehmenden Alter erfährt der Mensch, dass sich der Raum seiner Freiheit verändert.
Der alte Mensch spricht über gewonnene Gewissheiten
Er hat erprobt, wie man mit Gefahren und Rückschlägen umgeht. Er fühlt sich mehr und mehr von der Aufgabe entlastet, zu arbeiten und sich im Berufsleben weiterzuentwickeln, Ansehen, Einfluss und Geltung zu mehren. So gewinnt er Zeit, das zu tun, was er lange aufgeschoben hatte. Nämlich alte Freunde besuchen, neue finden oder Grundsatzfragen neu bedenken und unbekannte Regionen der Welt erkunden. Der Mensch genießt Selbstverständlichkeiten. Er freut sich, dass seine Fähigkeiten im Alltagsleben anhalten.
Im Beruf pflegt er nun die Kunst, andere gewähren zu lassen. Er wird seine Erfahrungen anderen, insbesondere jungen Menschen, mitteilen. Er teilt mit ihnen ein Stück seiner Biographie. Nämlich große Erlebnisse, berührende und bedrückende Erfahrungen, Fehler und deren Vermeidbarkeit. Der alte Mensch spricht über gewonnene Gewissheiten und offene Wissensfragen und händigt dem Gesprächspartner damit ein Stück seiner Lebenssicht und seines Lebenssinns aus. Er bedenkt mit anderen, wie er in den verschiedenen Erfahrungen seines Lebens Heiterkeit bewahrt hat. Quelle: „Beherzte Freiheit“ von Paul Kirchhof
Von Hans Klumbies