Freiheitsrechte sind keine Selbstverständlichkeit mehr

In seinem neuen Buch „Freiheit in Gefahr“ untersucht Hans-Jürgen Papier die verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Facetten der Freiheit. Dabei bezieht er sich stets auf die Verfassung Deutschlands, deren oberster Zweck die Freiheit ist. Mit Sorge beobachtet der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts die fortschreitenden Erosionserscheinung in Deutschland. Denn die einst hart erkämpften Freiheitsrechte sind keine Selbstverständlichkeit mehr. Sie sind zunehmend in Gefahr, nicht zuletzt seit der Coronapandemie. Der Autor beobachtet besorgniserregende Verschiebungen auf das, was viele Deutsche politisch als verhältnismäßig empfinden. Hans-Jürgen Papier deckt auf, was die Grundrechte bedroht, und macht deutlich, warum es jetzt gelingen muss, die bürgerlichen Freiheiten zu sichern und zu wahren. Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier war von 2002 bis 2014 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

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Der totalitäre Mensch ist radikal isoliert

Die Philosophin Hannah Arendt war eine der Ersten, die sich mit dem Totalitarismus auseinandersetzte. Sie beschrieb die „totalitäre Persönlichkeit“ als radikal isolierte Menschen, deren Bindung weder an die Familie noch an Freunde, Kameraden oder Bekannte einen gesicherten Platz in der Welt garantiert. Dass es überhaupt auf der Welt ist und in ihr einen Platz einnimmt, hängt für ein Mitglied der totalitären Bewegung ausschließlich von seiner Mitgliedschaft in der Partei und der Funktion ab, die sie ihm zugeschrieben hat. Anne Applebaum ergänzt: „Theodor W. Adorno, der vor den Nationalsozialisten in die USA geflohen war, vertiefte den Gedanken weiter. Unter dem Einfluss von Sigmund Freud suchte er die Ursprünge der autoritären Persönlichkeit in der frühen Jugend, etwa gar in unterdrückten homosexuellen Neigungen.“ Anne Applebaum ist Historikerin und Journalistin. Sie arbeitet als Senior Fellow an der School of Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

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Es gibt nur eine Vernunft

Das hat bestimmt schon jeder einmal erlebt, dass trotz intensiven Austauschs der Argumente keine Einigung zu erzielen war. Reinhard K. Sprenger will auf einen Aspekt aufmerksam machen, den man in seiner Bedeutung für Konflikte noch gar nicht richtig begriffen hat. Die Menschen, die heute leben, sind aufgewachsen in einem gesellschaftlichen Klima, das Vernunft sehr groß schrieb. Die zudem überzeugt sind, dass es im Grunde nur eine Vernunft gäbe. Reinhard K. Sprenger weiß: „Das Hintergrundprogramm, gleichsam die Software dafür, hat der imperiale deutsche Philosoph Jürgen Habermas in den 1960er Jahren geschrieben.“ Dieses Programm geht davon aus, dass alle Menschen eine gemeinsame Sachlichkeit beanspruchen, innerhalb deren Argument und Gründe gelten. Reinhard K. Sprenger zählt zu den profiliertesten Managementberatern und wichtigsten Vordenkern der Wirtschaft in Deutschland.

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Der Romantiker ist tragisch isoliert

Was Narziss nie wissen wird, weil seine ganze Konzentration der betörenden Oberfläche gewidmet ist. Hinter seinem Spiegelbild liegt eine Welt, in der Bilder verfließen, in der eigene und fremdartige Gesetze herrschen. Das romantische Individuum ist tragisch isoliert und von einer ewigen Sehnsucht getrieben. Narzisstische Fantasien zerplatzen wie Seifenblasen an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Theorien, die alle in dieselbe Richtung weisen. Nämlich dass es weder die Welt, so wie sie von Menschen wahrgenommen wird, noch die wahrnehmenden Individuen als solche überhaupt gibt. Philipp Blom fügt hinzu: „Das Bewusstsein ist seine eigene, ständig murmelnde Geschichte, die Membran aus Leben und Sinn, die kritische Zone der menschlichen Existenz, eine notwendige Fiktion.“ Ein wahrnehmendes Ich und eine wahrgenommene Welt flimmern auf. Philipp Blom studierte Philosophie, Geschichte und Judaistik in Wien und Oxford.

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John Rawls entwickelt eine Gerechtigkeitstheorie

Im Allgemeinen hat John Rawls versucht, dass sein Liberalismus vermeidet, den Bürgern eines liberalen Regierungssystems eine bestimmte Konzeption des Guten aufzudrängen. Seine Gerechtigkeitstheorie beruht durchaus auf dem Gedanken, dass Autonomie für sich genommen gut für die Menschen ist. Und dass diesen genug Raum für deren Ausübung gelassen werden sollte. Danielle Allen ergänzt: „Sie enthält auch einen knappen Ausblick auf das demokratischer Gleichheit innewohnende menschliche Gut.“ Jürgen Habermas vertritt die These, dass Demokratie an sich wertvoll ist. Weil politische Teilhabe nicht nur für die Selbstachtung, sondern für volles menschliches Wohlergehen unverzichtbar ist. John Rawls lehnte die Wahrheit des klassischen Humanismus ab. Die Politikwissenschaftlerin und Altphilologin Danielle Allen lehrt als Professorin an der Harvard University. Zugleich ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

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Alle Lust will Ewigkeit

Für Friedrich Nietzsche will die Lust Ewigkeit, aber er meint damit nicht die Ewigkeit eines metaphysischen Elysiums. Sondern es ist die Ruhe, Stille, das glatte Meer und die Erlösung von sich durch die Kunst und die Erkenntnis suchen. Oder es kann auch der Rausch, der Krampf, die Betäubung sowie der Wahnsinn sein. Ger Groot stellt fest: „Es geht Friedrich Nietzsche also nicht um einen „romantischen“, sondern um einen „dionysischen“ Pessimismus, wie er ihn schon in „Die fröhliche Wissenschaft“ beschrieben hat.“ Er verfolgt dabei die Erkenntnis, die in den dionysischen Origen und später in der Tragödie zum Ausdruck kommt und der zufolge Leben, Lust und Leiden zusammengehören. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Zudem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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In Italien gibt es mehr als 350 genehmigte Rebsorten

Niemand versteht es so gut wie die Italiener, Lebensstil und Emotionen zu verkaufen, und das gilt auch für Wein. Viele denken dabei hauptsächlich an Prosecco, Pinot Grigio und Chianti. Aber dieses große und immens vielfältige Land hat auch eine Fülle lokaler, weniger bekannter Sorten zu bieten. Aldo Sohm und Christine Muhlke wissen: „Es gibt mehr als 350 genehmigte Rebsorten, und 500 weitere werden dokumentiert.“ Viele Winzer haben jedoch in den 80er- und 90er-Jahren lokale Rebsorten durch Sorten für den Massenvertrieb wie Cabernet Sauvignon ersetzt. Damit wollten sie Anschluss an den internationalen Markt bekommen. Die nächste Generation kehrt jedoch wieder zu den Ursprüngen zurück. Sie pflanzt wieder das an, was hier seit Jahrhunderten am besten gedeiht. Der Österreicher Aldo Sohm ist einer der renommiertesten Sommeliers der Welt, eine Legende seiner Branche. Christine Muhlke ist Redakteurin des Feinschmecker-Magazins „Bon Appétit“.

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Hannah Arendts Denken ist aktueller denn je

In ihrem neunen Buch „Der Streit um Pluralität setzt sich Juliane Rebentisch mit der politischen Philosophie Hannah Arendts auseinander. Es besteht für die Autorin kein Zweifel, dass die Schriften von Hannah Arendt heute nicht zuletzt aufgrund ihrer Aktualität ihrer Themen wieder mit großem Interesse liest. Schonungslos beschreibt sie die Unzumutbarkeiten von Flucht und Staatenlosigkeit. Ihre eindrücklichen Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Wahrheit haben Eingang in die öffentlichen Debatten der Gegenwart gefunden. Hannah Arendt Leben war bekanntlich geprägt durch die Erfahrungen von Antisemitismus, Staatsterror, Flucht und Staatenlosigkeit. Juliane Rebentisch betont: „Die geistesgeschichtliche Bedeutung Hannah Arendts bemisst sich nicht zuletzt an den zum Teil heftigen Kontroversen, die ihre Publikationen in der Öffentlichkeit auslösten.“ Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

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Der Mensch ist weder aufrichtig noch ehrlich

Friedrich Nietzsche hat sich von Beginn seiner Professorenkarriere an bis kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch immer wieder neu mit der Wahrheitsfrage auseinandergesetzt. Dies geschah durchaus entlang eines Ariadnefadens. Dieser bringt Anfang wie Ende dieses Reflektierens im als Motto angeführten Zitat aus „Ecce homo“ auf den wichtigen Punkt: „Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand.“ Christian Niemeyer schließt allerdings aus, dass Friedrich Nietzsche zeitlebens an der Dekonstruktion der Idee von Richtigkeit und Wahrheit gearbeitet hat. Im Essay „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“, den Friedrich Nietzsche bewusst geheim gehalten hatte, ist folgende Definition zentral: „Wahrheit ist (e)in bewegliches Heer von Metaphern.“ Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

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Das Spiel steht dem Ernst entgegen

Es erscheint für Volker Gerhardt geradezu natürlich, das Spiel als das zu sehen, was dem „Ernst“ entgegensteht. Aus der Sicht kindlicher Wahrnehmung kann das gar nicht anders sein. Denn das Kind hat vornehmlich den Wunsch, spielen zu dürfen. Es muss aber durchweg mit der Maßgabe rechnen, dass jetzt Schluss zu sein habe. Nämlich weil Schularbeiten zu machen sind oder weil es Zeit ist, schlafen zu gehen. Volker Gerhardt fügt hinzu: „Auch mitten im sprichwörtlich gewordenen Kinderspiel kann es plötzlich ernst werden: wenn die Nase blutet, der Ball gestohlen wird oder der Bruder beim Schwimmen um Hilfe ruft.“ Dann schlägt das Spiel augenblicklich um in tödlichen Ernst. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

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Europa erfindet die Demokratie

Zu den Hochwerten der europäischen Kulturgeschichte gehört die Erfindung der Demokratie. Sie wird heute in allen großen Reden auf die Europäische Union (EU) als eine Haupterrungenschaft der europäischen Kultur gepriesen. Verbunden ist sie mit Begriffen wie Toleranz, Menschenrechte, Freiheit und anderen mehr. Silvio Vietta weiß natürlich auch: „Dabei hatte die Demokratie in Europa lange Zeit einen schweren Stand. Der Wert der Demokratie war nämlich immer auch umstritten. Ist sie nicht auch eine Form der Pöbel-Herrschaft? Gibt sie nicht Macht in Hände, die damit nicht vernünftig und rational umgehen können?“ Und handelt es sich eigentlich noch um eine gut funktionierende Demokratie, wenn bei vielen Wahlen ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung gar nicht mehr von seinem Wahlrecht Gebrauch macht? Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Naturgesetze bestimmen die Entwicklung der Welt

Auch Carlo Rovelli kennt das einzige Textfragment, das von Anaximander erhalten geblieben ist und von Simplicius zitiert wird: „Woraus aber für das Seiende das Entstehen ist, dahinein erfolgt auch ihr Vergehen gemäß der Notwendigkeit. Denn sie schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“ Erstens steckt in diesen wenigen Zeilen die Idee, dass die Entwicklung der Welt nicht dem Zufall überlassen ist. Sondern sie ist von der Notwendigkeit bestimmt, also von Gesetzen in irgendeiner Form. Zweitens besagen sie, dass die Art und Weise, wie sich diese Gesetze ausdrücken, „der Ordnung der Zeit“ folgt. Das bedeutet laut Carlo Rovelli, dass es Naturgesetze gibt und diese regeln, wie sich natürliche Abläufe zeitlich entwickeln. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

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Der Erste Weltkrieg stoppte eine frühe Globalisierung

Es gibt keine florierende Wirtschaft ohne starke Institutionen. Und es gibt keine wachsende Globalisierung ohne eine maßvolle internationale Politik, die sie zu schützen bereit ist. Diese bittere Lektion hat die Welt am eigenen Leib gelernt. Der Glaube, dass Wissen, Technologie und Profite unaufhaltsamen Fortschritt garantierten, beflügelte die politischen Eliten im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Er platzte mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Nadav Eyal ergänzt: „Diese frühe Globalisierung zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und dem Ersten Weltkrieg wird als „Belle Époque“, „schöne Epoche“ bezeichnet.“ Es war eine beeindruckende Blütezeit. Die Welt erlebte eine der größten Migrationswellen zu Friedenszeiten, vor allem Richtung Nordamerika. Italiener, Iren, Juden, Holländer, Deutsche, Tschechen, Engländer, Schotten, Polen verließen den alten Kontinent auf der Suche nach einer neuen Zukunft. Nadav Eyal ist einer der bekanntesten Journalisten Israels.

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Die Technik ist ein großer Wachstumsfaktor

Zwei Lager stehen sich bei der Debatte über die Zukunft der Arbeit gegenüber, deren Prognosen gegensätzlicher nicht sein könnten. Richard David Precht erläutert: „Die einen sehen Zeiten der Vollbeschäftigung voraus. Hat nicht der technische Fortschritt immer die Produktivität erhöht und die Anzahl der Arbeitenden?“ Sie können dabei auf den amerikanischen Nobelpreisträger Robert Solow verweisen. Seiner Meinung nach hat der technische Fortschritt stets eine gewaltige Steigerung der Produktivität ermöglicht. Nicht Arbeit und Kapital, sondern vielmehr die Technik sei der entscheidende Wachstumsfaktor. Auf der anderen Seite sagte der britische Ökonom John Maynard Keynes im Jahr 1933 voraus, der Fortschritt in den Industrieländern würde zu einer Massenarbeitslosigkeit führen. Der Philosoph, Publizist und Bestsellerautor Richard David Precht zählt zu den profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Es gibt zwei Phänomene der Identität

Die Französische Revolution hatte weltweit immense Auswirkungen auf das Verständnis von Identität. Obwohl der Begriff damals noch nicht Verwendung fand, lassen sich doch fortan deutlich zwei Phänomene der Identität unterscheiden. Diese gehen von unterschiedlichen Prämissen aus. Francis Fukuyama erklärt: „Eine Gruppierung verlangte die Anerkennung der Würde von Individuen, während die andere die Anerkennung der Würde von Kollektiven in den Vordergrund rückte.“ Die erste, individualistische Fraktion ging von der Voraussetzung aus, dass alle Menschen frei geboren und in ihrem Streben nach Freiheit gleichwertig sind. Die Schaffung politischer Institutionen sollte allein dem Ziel dienen, so viel wie möglich jener natürlichen Freiheit zu erhalten, soweit sie im Einklang mit der Notwendigkeit eines gemeinsamen Gesellschaftslebens stand. Francis Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Sein Bestseller „Das Ende der Geschichte“ machte ihn international bekannt.

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Frédéric Lenoir kennt den Weg zur Weisheit

Wie Sokrates bemerkt, beginnt der Weg zur Weisheit mit der Selbsterkenntnis. Er fordert: „Stell Dir die Frage: Wer bin ich?“ Damit ist nicht nur die biologische Art und Familienangehörigkeit gemeint. Gemeint sind auch nicht nur die kulturelle Zugehörigkeit und auch nicht die soziale. Nein, jeder soll sich nach seiner tiefen inneren Identität fragen. Nur dann wird man laut Frédéric Lenoir herausfinden, dass das Bild, das andere von einem haben und das man anderen vermitteln möchte, seinem echten Wesen vielleicht nicht entspricht. Dass man nicht voll und ganz dem eigenen Selbst entspricht. Diese Selbstbefragung ist sehr wichtig, denn keine Suche nach der Weisheit kann auf der Grundlage eines „falschen Selbst“ gelingen. Die Unkenntnis seiner selbst, seiner inneren Natur sowie seiner wahren Sehnsüchte verhindert den Weg zur Weisheit. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

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Barbara Schmitz erforscht das lebenswerte Leben

In ihrem Essay „Was ist ein lebenswertes Leben?“ stellt Barbara Schmitz fest, dass die Frage sich nicht systematisch und linear behandeln lässt. Denn es gibt darauf keine eindeutige Antwort. Es handelt sich hier vielmehr um eine Frage, die eine subjektive Antwort eines Individuums verlangt: „Eine Antwort, die immer auch die Erfahrungen des jeweiligen Menschen spiegelt.“ Deshalb nimmt Barbara Schmitz in ihrem Essay immer wieder Bezug auf biographische Erfahrungen. Die mündlichen und biographischen Berichte bilden die Anstöße zur philosophischen Reflexion, die das Anliegen dieses Essays ist. Individuelle Erfahrungen sind ihr Ausgangspunkt, die mit philosophischen Begriffen, Theorien, Positionen und Debatten verbunden werden. Barbara Schmitz ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin in Basel.

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Ohne Wahrheit gibt es keine Gerechtigkeit

Ohne die Erforschung der materiellen Wahrheit, so sagt das Bundesverfassungsgericht, „kann Gerechtigkeit nicht verwirklicht werden“. Das ist für Thomas Fischer eine Aussage, die starke und dezidierte Programmsätze enthält. Es gibt materielle, also „wirkliche“ Wahrheit und Unwahrheit. Es existiert ein normatives und empirisches Konzept, auf dessen Grundlage man zwischen beiden unterscheiden kann. Und es gibt eine Ansicht von Gerechtigkeit, die mit der Wahrheit oder der Verpflichtung zu deren Vorstellung nicht substanziell und zwingend verbunden ist: „Ohne Wahrheit keine Gerechtigkeit“, könnte man daraus schließen, würde damit aber überinterpretieren. Thomas Fischer stellt fest: „Denn was Wahrheit wirklich ist, und ob man sie im Einzelfall zutreffend und ausreichend erforscht hat, weiß das Verfassungsgericht auch nicht.“ Thomas Fischer war bis 2017 Vorsitzender des Zweiten Senats des Bundesgerichtshofs in Karlsruhe.

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Die Stille ist schöpferisch

Der chinesische Philosoph Liezi sagt: „Der Sinn des auf sich selbst Beruhenden ist Stille: So entstehen Himmel, Erde und die ganze Natur.“ Albert Kitzler interpretiert den Satz so, dass Stille entsteht, wenn der Mensch völlig in sich selbst ruht. Diese Stille ist schöpferisch. Die Stille, die hier gemeint ist, bedeutet: alles Unwesentliche abstreifen, sich leeren von allem Äußeren, in seine Mitte kommen. Sie bezieht sich sowohl auf die äußere Natur wie auf die Natur des einzelnen Menschen. Aus ihr entsteht alles. In diese Ruhe und Leere hinein kann der „Anruf des Seins“ erfolgen und vernommen werden. Er fordert den Menschen auf, sein Eigenstes zu ergreifen und zu gestalten. Der Philosoph und Jurist Dr. Albert Kitzler ist Gründer und Leiter von „MASS UND MITTE“ – Schule für antike Lebensweisheit.

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Die Dialektik lebe hoch

Patrick Eiden-Offe fordert: „Die Dialektik, sie lebe hoch – auch und gerade in finsteren Zeiten. Sie lebe hoch, nicht als ein Ordnungswissen. Sondern als eine Sichtweise, die jene Unordnung sichtbar macht, auf der sich jede Ordnung erhebt.“ Die Dialektik lebe hoch als Einübung in einen Blick, der selbst noch in den finstersten Machenschaften der Gegenwart die Komödie zu erblicken vermag. Und in der Komödie die nicht zu unterdrückende Tendenz jeder Ordnung zu erkennen, sich selbst zu entlarven. Wenn die Dialektik ein Weltprinzip ist, wie es die Hegelianer aller Zeiten immer wieder behauptet haben, dann muss sie nach Bertolt Brecht als „humoristisches Weltprinzip“ gelten. Nämlich als ein Weltprinzip davon, dass es kein Weltprinzip geben kann. Ja, es ist eine Komödie, auch und gerade, wenn es nichts zu lachen gibt. Patrick Eiden-Offe ist Literatur- und Kulturwissenschaftler.

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Albert Camus sucht Sinn in einer absurden Welt

Die 21. Sonderausgabe des Philosophie Magazins ist Albert Camus gewidmet. Der Schriftsteller und Philosoph wurde 1957 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Jana Glaese, Chefredakteurin des Sonderhefts, schreibt im Editorial: „Camus zeigt sich als der Denker dieser Zeit. Die Coronapandemie ließ uns seinen Roman „Die Pest“ wiederentdecken. Die Klimaproteste verleihen seinem Konzept der Revolte neue Aktualität. Und der Ukrainekrieg ruft Camus als Widerstands- und Freiheitsenker ins Gedächtnis.“ Gleichzeitig zielt sein Denken auf weit mehr. Albert Camus ging es um die Existenz als solche. Die Überzeugung, dass man der Welt entgegentreten muss, ist in seiner Philosophie des Absurden angelegt. „Das Absurde“, heißt es im „Der Mythos des Sisyphos“, ist „der Zusammenprall des menschlichen Rufes mit dem unbegreiflichen Schweigen der Welt.“ Doch für Albert Camus gilt es, trotz aller Stille, weiter zu rufen und sich der Sinnlosigkeit zu verweigern. Wenn es ein Glück gibt, dann liegt es eben in dieser Revolte.

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Alle Menschen können nicht vegan leben

Veganer meinen, der komplette Verzicht auf tierische Lebensmittel wäre heute schon das probateste Mittel, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Die Vertreter der Fleisch-, Milch- und Geflügelwirtschaft sehen das natürlicherweise etwas anders. Malte Rubach stellt fest: „Zwischen diesen Standpunkten tut sich allem Anschein nach das weite Tal der Ahnungslosen auf.“ Das Thünen-Institut ist eine Einrichtung im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Es hat 2019 ermittelt, dass der Anteil der Ernährung in Deutschland vom Acker bis zum Teller etwa 19 Prozent aller Treibhausgase in Deutschland ausmacht. Laut Thünen-Institut sind dabei tierische Lebensmittel für 54 Prozent der Treibhausgase der Ernährung in Deutschland verantwortlich. Oder anders gesagt, für zehn Prozent aller Treibhausgase in Deutschland. Der Referent und Buchautor Dr. Malte Rubach hat Ernährungswissenschaften in Deutschland, der Türkei und den USA studiert.

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Homer umgab eine Aura von Göttlichkeit

Das Schicksal Trojas hörte nie auf, die Griechen zu beschäftigen. Sogar Xerxes hatte bei seiner Ankunft am Hellespont verlangt, dass man ihm den Ort zeige. In der „Ilias“ war die Erinnerung an jene aufgehoben war, die im Staub der Ebene vor Troja gekämpft hatten. Zudem gab sie den Griechen auch ihr wichtiges Fenster auf das Wirken der Götter und ihr Verhältnis zu den Sterblichen. Tom Holland fügt hinzu: „Der Verfasser der „Ilias“, ein Mann, dessen Geburtsort und dessen Lebensdaten Gegenstand endloser Diskussionen waren, was selbst eine Gestalt mit einer gewissen Aura von Göttlichkeit.“ Einige gingen so weit zu sagen, Homers Vater sei ein Fluss und seine Mutter eine Meeresnymphe gewesen. Der Autor und Journalist Tom Holland studierte in Cambridge und Oxford Geschichte und Literaturwissenschaft.

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Die Folgekosten des „Aufbau Ost“ wurden unterschätzt

Die Neubildung der deutschen Nation – und darum ging es ja bei und nach der Wiedervereinigung von 1990 – schien gelungen. Deutschland war ein postklassischer Nationalstaat, als Großmacht gezähmt, da in vielfältige supranationale Strukturen und Gebilde eingebunden. Die Deutschen hatten aus ihrer Geschichte gelernt und begriffen, dass sie nach zwei Weltkriegen und ungeheuerlichen Verbrechen eine unverhoffte zweite Chance erhielten, wie sie im Leben nur selten vorkommt. Edgar Wolfrum erinnert sich: „Der äußeren Einheit würde rasch die innere Einheit folgen. „Blühende Landschaften“ wurde versprochen. Das war die erste Täuschung.“ Die Transformation von einer sozialistischen Planwirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft verlief nicht reibungslos. Zwischen West und Ost tat sich ein großer Graben auf, die Folgekosten des „Aufbau Ost“ wurden massiv unterschätzt. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Die Kultur des Erinnerns bestimmt die Gegenwart

Der Mensch, der nicht vergessen, der Unglück, Enttäuschung, Bitterkeit, Hass nicht hinter ich lassen kann, findet keinen Zugang zur Zukunft. Ihm bleiben der Aufbruch, die Erneuerung, das Fortschreiten verschlossen. Paul Kirchhof weiß: „Die Kultur des Vergessens war jahrhundertelang die Bedingung von Friedenschlüssen.“ Nach Ende des 1. Weltkriegs vereinbarte man im Versailler Vertrag jedoch ein Erinnern. Diese Kultur des Erinnerns, der nachhaltigen Zuweisung von Verantwortung, bestimmt das Denken der Gegenwart. Wer die Vernichtungskraft moderner Waffen und Kriege vor Augen hat, wird erkennen, dass ein Krieg zur Selbstzerstörung führt, deshalb zu verhindern ist. Allerdings darf man das Erinnern der Kriegsfolgen, insbesondere die Ausgleichspflichten, nicht über Generationen hinweg verlängern. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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