Der Tod ist nicht tragisch

Gibt es tragische Phänomene? Das hängt davon ab, was man als tragisch bezeichnet. Ágnes Heller stellt fest: „Der Tod ist nicht tragisch, denn wenn er es wäre, wären wir alle tragische Helden.“ Sokrates ist kein tragischer Held, Christus wurde nie als tragisch angesehen. Leiden ist nicht tragisch. Man spricht heute von einem tragischen Tod, wenn ein junger Mann bei einem Autounfall getötet wird oder Selbstmord begeht. Man empfindet Mitgefühl für einen gefallenen Soldaten oder einen verratenen Liebhaber, ohne ihr Schicksal als tragisch zu bezeichnen. Ágnes Heller, Jahrgang 1929, war Schülerin von Georg Lukács. Ab 1977 lehrte sie als Professorin für Soziologie in Melbourne. 1986 wurde sie Nachfolgerin von Hannah Arendt auf deren Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Ágnes Heller starb am 19. Juli 2019 in Ungarn.

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Der dialektische Dreischritt ist ein Gerücht

Der berühmte dialektische Dreischritt ist für Patrick Eiden-Offe nur ein Gerücht. Denn die ewige Leier von These, Antithese und Synthese hilft nicht wirklich weiter. Das wird schon dadurch deutlich, dass die drei Begriffe in der „Logik“ von Georg Wilhelm Friedrich Hegel in der erwarteten Kombination gar nicht vorkommen. Die Begriffe tauchen zwar vereinzelt auf. Aber dies durchgängig nur im Kontext einer Beschäftigung mit Immanuel Kant. Patrick Eiden-Offe stellt fest: „Hegel entleiht die Begriffe Kants. Er macht sie sich aber nie zu eigen.“ Dennoch bleibt in der „Logik“ eine gewisse Ordnung erhalten. An die Stelle des leeren Schematismus, der sich über die dialektische Methode gelegt hat, tritt nicht unversehens ein Chaos oder freies Fluten. Patrick Eiden-Offe ist Literatur- und Kulturwissenschaftler.

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Die Welt rückt enger zusammen

In den freiheitlichen Demokratien konnten die Menschen in der Corona-Krise den Eindruck gewinnen, zu viele widerstreitende Instanzen mit zu unterschiedlichen Interessen behindern einander gegenseitig. Hans-Jürgen Papier stellt fest: „Lange Zeit schien das Vorgehen der europäischen Staaten unkoordiniert und schlecht abgestimmt. Auch das bundesrepublikanische föderale System erweckte häufig den Eindruck, als sei es hauptsächlich damit beschäftigt, einen Flickenteppich aus unübersichtlichen Regelungen und jede Menge Streit und Unsicherheiten zu produzieren.“ Wie die Pandemie haben auch Klimawandel, Digitalisierung oder internationaler Terrorismus mit Prozessen zu tun, die man häufig unter dem Stichwort der Globalisierung zusammenfasst. Die Welt rückt in vieler Hinsicht enger zusammen. Die Dinge werden komplizierter, und Einflusssphären überlagern sich. Prof. em. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier war von 2002 bis 2014 Präsident des Bundesverfassungsgerichts.

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Die Ideale der Logik sind Konsistenz und Kohärenz

Die klassischen Ideale der Logik sind die Konsistenz und die Kohärenz. Ein Gedankensystem bzw. eine Theorie, ist konsistent, wenn in ihm weder ein expliziter Widerspruch vorkommt noch aus ihm ableitbar ist. Es ist außerdem kohärent, wenn die Teile sinnvoll zusammenhängen. Markus Gabriel ergänzt: „Beide Ideale werden durch die Entwicklungen der modernen Logik eingeschränkt beziehungsweise modifiziert.“ Seit dem 19. Jahrhundert ist die Einsicht bekannt, dass es kein Gesamtsystem aller Gedanken geben kann, das insgesamt konsistent und kohärent ist. Jedes Gedankensystem muss einige Gedanken ausschließen, um Stabilität herzustellen. Populär wurde dieser schon lange bekannte Umstand durch die Errungenschaften des Mathematikers Kurt Friedrich Gödel (1906 – 1978). Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Es gibt ein spezifisches Reich des Sinnlichen

Es gibt einen Ort, an dem Bilder entstehen, einen Ort, der weder mit Materie, in der die Dinge Gestalt annehmen, noch mit der Seele der Lebewesen und ihrem Seelenleben zu verwechseln ist. Das spezifische Reich der Bilder, der Ort des Sinnlichen, ist weder mit dem Raum der Gegenstände noch mit dem geistigen Paradies identisch, in dem sich alle erkennenden Subjekte versammeln. Dieser dritte Raum lässt sich weder aus dem Erkenntnisvermögen noch aus einer besonderen, spezifischen Natur heraus bestimmen. Ein Medium lässt sich weder durch seine Natur noch über seine Materie bestimmen. Sondern nur über ein spezifisches Vermögen, das weder auf das eine noch auf das andere reduziert werden kann. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Michael J. Sandel kennt die meritokratische Ethik

In diesen Tagen sehen viele Menschen Erfolg in einer Weise, wie die Puritaner Erlösung betrachteten. Nämlich nicht als etwas, das von Glück oder Gnade abhängig ist, sondern als etwas, das man sich durch eigene Anstrengung und Mühe verdient. Michael J. Sandel weiß: „Das ist der Kern der meritokratischen Ethik. Sie rühmt die Freiheit – die Fähigkeit, mein Schicksal vermöge harter Arbeit zu steuern – und die Verdienste.“ Wenn man selbst dafür verantwortlich ist, dass man sich einen hübschen Anteil weltlicher Güter angehäuft hat, dann muss man sich das verdient haben. Erfolg ist ein Zeichen der Tugend. Der Wohlstand steht einem zu. Diese Denkungsart gibt denjenigen Kraft, die an Meritokratie glauben. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph, der seit 1980 in Harvard lehrt. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.

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Europa hat noch jede Krise gemeistert

Es ist gegenwärtig ein geflügeltes Wort – die Krise Europas. Aber befand sich Europa nicht permanent in irgendeiner Krise? Nirgendwo sonst auf der Welt sind vor allem im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Nationalismen mit solch tödlicher Wucht aufeinandergeprallt. Dadurch haben sie einen ganzen Kontinent in Schutt und Asche gelegt. Edgar Wolfrum erläutert: „Wie auch immer sich die Situation gestaltete, schlimmer als vor 1945 konnte es nicht werden. Und bisher hat jede Krise Europas, und davon gab es seit den 1950er Jahren zahlreiche, zu einer neuen zukunftsweisenden Dynamik geführt.“ Diese brachte das Projekt Europa nach vorn. Europa war immer ein Geschichtsraum, der sich sozial, ökonomisch und politisch veränderte. Dabei waren seine Grenzen niemals eindeutig bestimmbar. Edgar Wolfrum ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg.

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Geistige Offenheit kann man lernen

In seinem neuen Buch „Think Again“ fordert Adam Grant seine Leser dazu auf, die Komfortzone fester Überzeugungen zu verlassen. Denn nur wer Zweifel und unterschiedliche Ansichten zulässt, ohne sich in seinem Ego bedroht zu fühlen, eröffnet sich die großartige Chance, wirklich neue Erkenntnisse zu gewinnen. In einer Welt, die sich rasant verändert, brauchen die Menschen dringend die Fähigkeit, Gedachtes zu überdenken und sich von Erlerntem wieder zu lösen. Adam Grant vertritt in „Think Again“ die These, dass man geistige Offenheit lernen kann. Dazu muss man seine kognitive Trägheit überwinden. Viele Menschen ziehen jedoch oft die Bequemlichkeit, an alten Ansichten festzuhalten, der Schwierigkeit vor, sich mit neuen Sichtweisen auseinanderzusetzen. Adam Grant ist Professor für Organisationspsychologie an der Wharton Business School. Er ist Autor mehrerer internationaler Bestseller, die in 35 Sprachen übersetzt wurden.

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Aldo Sohm schätzt die Weine aus Frankreich

Wein hat seinen Ursprung im antiken Georgien. Die Griechen und Römer haben ihn weiterentwickelt. Aber es waren die Franzosen, die den Anbau und die Weinbereitung über Jahrtausende perfektioniert haben. Aldo Sohm und Christine Muhlke wissen: „Aus diesem Grund verbindet man heute zuallererst Frankreich mit der Kunst der Weinbereitung und dem Wein als Element des Lebensstils.“ Auf der ganzen Welt findet man heute Winzer, die Pinot Noir, Cabernet Sauvignon, Syrah und Chardonnay anpflanzen. Sie lassen den Wein in Eichenfässern reifen. Auch französisch. Und sie bauen ganze Luxuskonzerne auf den Flaschen auf, die sie erzeugt haben. Extrem französisch. Der Österreicher Aldo Sohm ist einer der renommiertesten Sommeliers der Welt, eine Legende seiner Branche. Christine Muhlke ist Redakteurin des Feinschmecker-Magazins „Bon Apppétit“.

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Der Sinn des Lebens ist schwer zu fassen

Manchmal überfällt einen Menschen schlagartig das Gefühl von existenzieller Einsamkeit. Das geschieht von einer Sekunde auf die andere. Der Betroffene kann kaum noch atmen. Die Welt erscheint plötzlich fremd. Nichts scheint mehr zu passen. Christian Uhle stellt fest: „Es ist ein paradoxes Nebeneinander: Oft scheint alles so klar. Wir sind beseelt vom Leben, und jeder Zweifel an dessen Sinn wäre geradezu absurd.“ Man ist mittendrin, verwoben in den Konflikten und Schönheiten des Alltags. Man hat kleine oder große Ziele vor Augen, genießt den Austausch mit seinen Freunden. Das bedeutet ein Leben in Selbstverständlichkeit. In diesen Phasen erfährt man das Leben als zutiefst sinnvoll, auch wenn man niemals in Worte fassen könnte, was der Sinn des Lebens eigentlich ist. Das Anliegen des Philosophen Christian Uhle ist es, Philosophie in das persönliche Leben einzubinden.

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Früher hatten allein die Medien das Sagen

In der frühen Vorstellung der Medienwissenschaft war das Massenmedium eines, das waffenähnlich funktionierte. Es folgte einem simplen Stimulus-Response-Modell, bei dem die kommunikative Einbahnstraße auch eine Hierarchie betonierte. Ulf Poschardt erklärt: „Hier der Sender, dort der Empfänger und dazwischen das Medium, das nicht nur Gatekeeper war, sondern auch Pacemaker oder Deeskalierer.“ Der Konsument war eine leere Leinwand, die ganz in der Intension des Senders und der Medien bekritzelt und bemalt werden konnte. Die Medien hatten das Sagen, der Nutzer und Konsument das Nachsehen. Diese Idee selbst hatte einen idealistischen Unterbau. Die Sehnsucht der Massenmedien war auch mit der Vorstellung einer Demokratisierung der freien Gesellschaft verbunden. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

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Zarathustra ist nicht Friedrich Nietzsche

Zarathustra darf nicht als das Alter Ego Friedrich Nietzsches missverstanden werden. Denn dieser will das triebdynamische Gewaltverhältnis umkehren. Er will das Leben, die Sinnlichkeit, das Begehren peitschen. Es bleibt jedoch bei einer leeren Geste. Das Leben hält sich angesichts des Geknalles seine zierlichen Ohren zu. Friedrich Nietzche schreibt: „Oh Zarathustra! Klatsche doch nicht so fürchterlich mit deiner Peitsche! Du weißt es ja: Lärm mordet Gedanken.“ Konrad Paul Liessmann fragt sich, welche Gedanken das Geknalle Zarathustras stört und kommt zu folgendem Schluss: „Es sind, bekundet das Leben, durchaus zärtliche Gedanken, die durch Zarathustras Geknalle irritiert werden.“ Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

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„Der Herr der Ringe“ ist ein Mythos

Das Thema der neuen Sonderausgabe des Philosophie Magazins lautet: „Der Herr der Ringe“. John Ronald Reuel, kurz: J. R. R. Tolkien erschuf mit dem „Herrn der Ringe“ eine packende, überaus komplexe Erzählung. Sie handelt von dem Hobbit Frodo, der auszieht, um eine ungewöhnliche Heldentat zu vollbringen. Er soll einen mächtigen Ring zum Ort seines Ursprungs zurücktragen. Chefredakteurin Jana Glaese erklärt im Editorial: „Auf dem Weg dorthin trifft er auf Wesen, Völker und Sprachen, die von Tolkien bis ins letzte Detail erdacht wurden. Gleichzeitig behandelt sein Werk grundlegende philosophische Fragen: In welchem Verhältnis stehen Sprache und Welt? Was ist das Böse? Wie bewahren wir uns einen Hauch des Zaubers, der in der Moderne verloren scheint?“ Wer „Der Herr der Ringe liest“ findet in dem Werk auch etwas Zeitloses und Leuchtendes.

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Der Urwald dient als Klimaanlage für die Erde

In den Wolken über dem Kronendach von Urwaldriesen sammelt sich eine unvorstellbare Menge Wasser. Dirk Steffens und Fritz Habekuss wissen: „Der Wolkenschirm blockt Sonnenstrahlen ab, verhindert, dass der Boden austrocknet, und wirkt als Klimaanlage für die ganze Erde. Er beeinflusst den interkontinentalen Wolkenstrom und auch jeden Niederschlag, der woanders auf dem Planeten fällt.“ Zum Beispiel ganz im Süden der Erdkugel, in der Antarktis. Hier kommt er als Schnee vom Himmel. Er lässt über Hunderttausende Jahre hinweg kilometerdicke Eispanzer wachsen. Langsam fließen sie zur Küste und laden dort ihre Staub- und Geröllfracht ins Meer ab. In ihrem Buch „Über Leben“ erzählen der Moderator der Dokumentationsreihe „Terra X“ Dirk Steffens und Fritz Habekuss, der als Redakteur bei der „ZEIT“ arbeitet, von der Vielfalt der Natur und der Schönheit der Erde.

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Martin Luther wetterte gegen Ablässe

Am 31. Oktober 1517 sandte Martin Luther ein Schreiben an Albrecht von Brandenburg, den Erzbischof von Mainz. In diesem Brief, der die berühmten 95 Thesen enthielt, wetterte Luther gegen Ablässe. Dabei handelt es sich um käufliche, aus einem Blatt Papier bestehende Dokumente, die einen angeblich von den Sünden befreien. Helmut Walser Smith fügt hinzu: „Ob Luther die Thesen dann auch an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg nagelte, ist in der Geschichtswissenschaft bis heute umstritten.“ Sicher ist, dass Martin Luthers Kritik im Wesentlichen auf der Vorstellung gründete, Gottes Gnade werden allein durch den gewährt und empfangen, nicht durch gute Werke oder die Fürsprache von Priestern. Diese Vorstellung hatte das Potential, das Christentum, wie man es damals praktizierte, zu untergraben. Helmut Walser Smith lehrt Geschichte an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee.

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Die Grundrechte stehen an erster Stelle

Zwei Jahre, in denen eine essenzielle Krise auf die nächste folgte, habe das gesellschaftliche und politische Leben in Deutschland substanziell verformt. Dabei ist es zu einer schier unglaublichen Machtkonzentration der Exekutive gekommen. Ulrike Guérot fordert in ihrem neuen Buch „Wer schweigt, stimmt zu“, dass der Wert von Grundrechten dringend neu im Bewusstsein der Deutschen verankert werden muss. Die Gesellschaft darf niemanden von der Teilhabe am Diskurs ausgrenzen, den mit Ausgrenzung beginnt laut Ulrike Guérot die Erosion der Demokratie. Gewinner sind ihrer Meinung nach vor allem Tech-Giganten wie Facebook, Twitter sowie YouTube und Finanzgiganten, die schlussendlich digitale Überwachungssystem installieren. Sie haben den Körper als letzte Ware im Visier und Heilsversprechen im Gepäck. Seit Herbst 2021 ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik der Rheinischen-Friedrichs-Wilhelms Universität Bonn.

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Es herrscht ein großes Unbehagen in Europa

Der Streit über die politische Korrektheit ist der Kristallisationspunkt, an dem sich eine lose Verbindung verfestigt. Es handelt sich dabei um die Liaison der Reaktionäre mit dem hadernden Teil des Bürgertums, der in Krisenzeiten oft nach rechts driftet. Roger de Weck erläutert: „Indem sie das politisch Korrekte anprangern, können Autoritäre als Hüter der Freiheit auftreten. Konservative sich ein letztes Mal gegen die aussterbende Spezies der Weltverbesserer austoben. Und schwankende Sozialliberale doch noch zum rechten Zeitgeist finden.“ Den Reaktionären nützt es, dieses im Alltag der Europäer unerhebliche Phänomen zu einem Symbol des ganz großen Unbehagens aufzubauschen, als drücke allen das Joch einer Schreckensherrschaft. Das „Man darf ja gar nichts mehr sagen“ ist Teil der Agenda von Neurechten. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

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Cicero prägt den Begriff der „Humanität“

Nicht erst Johann Gottfried Herder hat den Begriff der „Humanität“ zu einem Zentralbegriff der menschlichen Bildung und des Weltverständnisses gemacht. Erasmus geht ihm voran und lässt keinen Zweifel daran, dass er in Cicero den historischen Urheber und geistigen Vater anerkennt. Volker Gerhardt fügt hinzu: „Dass Cicero bereits in der Vielfalt des Begriffsgebrauchs den Anfang macht, blieb stets unbestritten. Fraglich war eine Weile, ob nicht der Stoiker Panaitios, auf den Cicero selbst verweist, den Anfang macht.“ Zweifel gab und gibt es noch, ob Cicero wirklich schon dem weiten Impuls der Menschlichkeit verpflichtet war. Oder ob er nicht eher nur der römischen Adelsethik ein neues Etikett gegeben hat. Volker Gerhardt war bis zu seiner Emeritierung 2014 Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität in Berlin.

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Das Wort „problema“ hat zwei Bedeutungen

Der moderne Mensch ist versessen darauf, Probleme zu lösen. Er ist darauf konditioniert. Dass es überhaupt Probleme gibt, ist aber keineswegs klar. Jedenfalls gibt es sie nicht wie Bäume, Garagen oder Handys. Ein Mann der nicht einparken kann, ist zunächst nichts anderes als ein Mann, der nicht einparken kann. Rebekka Reinhard weiß: „Seine fehlende Einparkkompetenz wird erst dann zum Problem, wenn er und andere es so interpretieren.“ Hinter dem altgriechischen Wort „problema“ stecken zwei Bedeutungen. Erstens ein Ding, das man aufnimmt, um sich – wie mit einem Schild – zu schützen. Zweitens eine Sache, die man einem anderen hinwirft, damit er sie aufnimmt und sich mit ihr auseinandersetzt. Die Philosophin Rebekka Reinhard ist seit 2019 stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Hohe Luft“.

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Verantwortung verlangt nach Entscheidungen

Ina Schmidt erklärt: „Verantwortliches Handeln ist keine Selbstverständlichkeit. Es versteht sich nicht von selbst und bezieht sich auf verschiedene Ebenen des eigenen Tuns.“ In Situationen, in denen ein Mensch verantwortlich ist, muss er – aufgrund von Rolle, Zuständigkeit oder Kompetenz – in der Lage sein, eine Entscheidung zu treffen. Dazu gehört auch Gründe anzuführen und sich zu rechtfertigen gegenüber Institutionen, der Öffentlichkeit oder dem eigenen Umfeld. Man ist also in einer konkreten Situation immer verantwortlich für etwas oder jemanden oder gegenüber mindestens einem anderen. Jede Verantwortlichkeit lässt sich also als eine mindestens dreistellige Relation zum Ausdruck bringen. Ina Schmidt ist Philosophin und Publizistin. Sie promovierte 2004 und gründete 2005 die „denkraeume“. Seitdem bietet sie Seminare, Vorträge und Gespräche zur Philosophie als eine Form der Lebenspraxis an.

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Moleküle und Atome existieren

Wärme ist die mikroskopische Bewegung der Moleküle. In einem heißen Tee werden die Moleküle heftig zappeln, während sie sich in einem kalten Tee kaum rühren. Und noch weniger bewegen sie sich in einem Eiswürfel, der noch kälter ist. Carlo Rovelli stellt fest: „Noch zu Ende des 19. Jahrhunderts glaubten eher wenige daran, dass Moleküle und Atome tatsächlich existierten.“ Ludwig Boltzmann (1844 – 1906) war jedoch von ihrer Realität überzeugt und focht für sie einen Kampf aus. Seine Angriffe auf diejenigen, die nicht an Atome glaubten, sind legendär geblieben. Als Nikolaus Kopernikus einen Sonnenuntergang betrachtete, sah er vor seinem geistigen Auge, wie sich die Erde dreht. Als Ludwig Boltzmann in ein Glas mit reglosem Wasser blickte, sah er den wilden Tanz der Atome und Moleküle. Carlo Rovelli ist seit dem Jahr 2000 Professor für Physik in Marseille.

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Theorien lassen sich nur falsifizieren

Der große Wissenschaftsphilosoph Karl Popper gelangte zu einer zentralen Erkenntnis. Nämlich dass die Naturwissenschaften keine Ansammlung verifizierbarer Sätze ist, sondern aus komplexen Theorien besteht, die sich bestenfalls insgesamt falsifizieren lassen. Die wissenschaftliche Erkenntnis basiert auf theoretischen Konstrukten, die sich im Prinzip durch empirische Beobachtungen widerlegen lassen. Carlo Rovelli erklärt: „Eine Theorie, die uns neue Vorhersagen erlaubt, die bestätigt und niemals von der Realität widerlegt wird, ist eine wissenschaftlich valide Theorie.“ Das heißt aber nicht, dass es nicht eines Tages doch zu einem Widerspruch kommen kann. Dann müssen Wissenschaftler nach einer besseren Theorie suchen. Mit dem evolutiven Aspekt wissenschaftlicher Erkenntnis hat sich Thomas S. Kuhn intensiv beschäftigt. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

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Hass ist die primitivste aller Emotionen

Reinhard Haller definiert den Hass in seinem neuen Buch „Die dunkle Leidenschaft“ wie folgt: Es handelt sich dabei um eine „auf Zerstörung ausgerichtete Abneigung, die destruktivste Form der Verachtung“. Als intensives Empfinden von Feindseligkeit und Aggressivität äußert sich Hass beispielsweise in toxischem Schweigen oder verbalen Attacken. Er kann zu heftigen zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen und Gesellschaftskonflikten führen. Weitere Formen des Hasses sind Diskriminierung und Mobbing, am schlimmsten Verbrechen und Krieg. Hass ist tatsächlich eine Leidenschaft, die nichts als Leiden schafft. Hass ist die primitivste aller Emotionen – ein Trieb zur Grausamkeit, wie ihn Sigmund Freud bezeichnet hat. Prof. Dr. med. Reinhard Haller war als Psychiater, Psychotherapeut und Neurologe über viele Jahre Chefarzt einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik. Heute führt er eine fachärztliche Praxis in Feldkirch (Österreich).

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Das Vermögen ist sehr ungleich verteilt

Nettovermögen bedeutet, dass von den Vermögen die Verbindlichkeiten abgezogen werden. Marcel Fratzscher nennt Beispiele: „Das können Konsumentenkredite für das Auto sein oder eine Hypothek für die Wohnung oder das Haus.“ Dieses Nettovermögen ist für viele Menschen wichtig, nicht nur, um einen Kredit von der Bank für dringend benötigte Ausgaben erhalten zu können. Sondern es dient auch für die Vorsorge im Alter. Umfragen zufolge schätzen die Deutschen im Durchschnitt, dass die 40 Prozent mit dem geringsten Vermögen knapp zehn Prozent des gesamten privaten Nettovermögens besitzen. Die Wahrheit ist jedoch ganz anders. Die unteren 40 Prozent haben lediglich ein Prozent des gesamten privaten Nettovermögens. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Rationalität ist keine absolute Größe

Der destruktive Umgang mit Konflikt resultiert aus der insgeheimen Übereinkunft, dass es nur eine einzige Rationalität gibt. Nämlich die eigene. Reinhard K. Sprenger stellt fest: „Wenn ich nur einen Grund nennen müsste, warum Konflikte eskalieren, dann genau deshalb. Darum: Anerkennen Sie, dass Rationalität keine absolute Größe ist. Dass es mehrerlei Vernunft gibt.“ Es gibt auch scheinbar unvernünftige Ordnungen, die allerdings erfahrungsgesättigt sind und deshalb Geltung beanspruchen dürfen. Man sollte jedoch die Spielräume nutzen, die jede noch so rigide Dogmatik zulässt. Wie der Volksmund sagt: „Etwas geht immer.“ Es gibt beispielsweise Felder, auf denen sich ökologische und wirtschaftliche Logik nicht widersprechen. Wichtig ist zudem, dass man einen soliden Selbstzweifel an der Einzigrichtigkeit seiner Erkenntnisfähigkeit nie verlieren sollte. Reinhard K. Sprenger zählt zu den profiliertesten Managementberatern und wichtigsten Vordenkern der Wirtschaft in Deutschland.

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