Kein Mensch ist frei von Abhängigkeiten

Jedes Individuum entsteht im Verlauf des Prozesses als Individuation. Keiner wird als Individuum geboren. Wenn jemand im Verlauf der Zeit zum Individuum wird, entgeht er oder sie in diesem Prozess nicht den grundlegenden Bedingungen der Abhängigkeit. Judith Butler erklärt: „Diese Bedingungen können nicht durch den bloßen Zeitablauf überwunden werden. Wir alle wurden, unabhängig von unseren späteren politischen Auffassungen, in einen Zustand radikaler Abhängigkeit hineingeboren.“ Wenn man als Erwachsener an diesen Zustand zurückdenkt, empfindet man vielleicht eine gewissen Herabsetzung oder Beunruhigung. Oder man will nichts mehr davon wissen. Manche sehen sich vielleicht wirklich durch die Tatsache gekränkt, dass sie sich einmal nicht selbst ernähren und nicht auf eigenen Füßen stehen konnten. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

Weiterlesen

Narrationen stiften Sinn und Zusammenhang

Addition und Kumulation verdrängen Narrationen. Byung-Chul Han erläutert: „Die sich über weite Zeiträume erstreckende narrative Kontinuität zeichnet Geschichte und Erinnerung aus. Erst Narrationen stiften Sinn und Zusammenhang.“ Die digitale, das heißt numerische Ordnung ist ohne Geschichte und Erinnerung. So fragmentiert sie das Leben. Der Mensch als sich optimierendes, sich neu erfindendes Projekt erhebt sich über die „Geworfenheit“. Martin Heideggers Idee der „Faktizität“ besteht darin, dass die menschliche Existenz auf dem Unverfügbaren gründet. Heideggers „Sein“ ist ein anderer Name für das Unverfügbare. „Geworfenheit“ und „Faktizität“ gehören zur terranen Ordnung. Die digitale Ordnung defaktifiziert die menschliche Existenz. Sie akzeptiert keinen unverfügbaren Seinsgrund. Ihre Devise lautet: „Sein ist Information“. Das Sein ist somit ganz verfüg- und steuerbar. Die Bücher des Philosophen Byung-Chul Han wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.

Weiterlesen

Es gibt keine unwiderruflichen Entscheidungen

Bei Personen scheint man zu glauben, dass sie einige der Dinge, die sie in Wirklichkeit gar nicht tun, tun können. Einfach so und ohne dass vorher etwas anderes geschehen muss. Was bedeutet das? Es bedeutet vielleicht unter anderem Folgendes: Nichts von dem, was bis zu dem Punkt geschieht, an dem man sich entscheidet, legt unwiderruflich fest, welche Entscheidung man trifft. Thomas Nagel schränkt allerdings ein: „Einiges von dem, was geschieht, ist von vorneherein festgelegt.“ Zum Beispiel scheint von vorneherein festzustehen, dass morgen zu einer bestimmten Stunde die Sonne aufgeht. Es besteht keine „offene Möglichkeit“, dass die Sonne morgen nicht aufgeht und es einfach Nacht bleibt. Der amerikanische Philosoph Thomas Nagel lehrt derzeit unter anderem an der University of California, Berkeley und an der Princeton University.

Weiterlesen

Aus Ablehnung kann Vertrauen entstehen

Oliver Dierssen vertritt in seinem Buch „Wenn dir dein eigenes Kind fremd ist und es deinem Kind mit dir genauso geht“ unter anderem die These, dass der sanftmütige, geduldige und ehrliche Umgang mit Kindern nicht nur deren Leben verbessert, sondern auch die Gesellschaft an sich. Kinder, deren Grenzen man respektiert, entwickeln sich später zu Erwachsenen, welche die Grenzen anderer spüren und ernst nehmen. Kinder, denen man feinfühlig und geduldig begegnet, leben später die Werte von Mitgefühl und Rücksichtnahme und geben sie weiter. Aus einer solchen Kindheit speist sich die Kraft, sich zu dem erwachsenen Menschen zu entwickeln, der man aufgrund der eigenen Veranlagungen, Sehnsüchte und Träume werden möchte. Dr. med. Oliver Dierssen ist als niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Region Hannover tätig.

Weiterlesen

Frank. P. Ramsey war seiner Zeit weit voraus

Die Konzepte über Wahrscheinlichkeit des Genies Frank. P. Ramsey wurden 50 Jahre lang beinahe völlig ignoriert. Aber warum? Jonathan Aldred erklärt: „Zunächst einmal erschienen Ramseys Ideen als ein posthumer Beitrag zur Philosophie der Überzeugungen.“ Sie wurden von Ökonomen und anderen, die an praktischen Anwendungen einer Wissenschaft der Gesellschaft interessiert waren, nicht gelesen. Und Frank P. Ramsey war seiner Zeit wirklich meilenweit voraus. Die existierenden Theorien und Denker konnten mit seinen Ideen zur Mathematik, Ökonomie und Philosophie erst in den 1960er-Jahren etwas anfangen und sie weiterentwickeln. In den 1920er-Jahren erkannten niemand die wahre Originalität und Bedeutung seiner Arbeit. Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge.

Weiterlesen

Alles hängt mit allem zusammen

Das infizierte Denken ist eine Kurzanleitung von Anders Indset für alle und niemanden. Sie ist geschrieben für eine neue Generation der Denkenden und für den Tag danach. An jenem Tag, an dem die Menschen mit gedanklichen Sprüngen und Widersprüchlichkeiten klarkommen. Anders Indset ergänzt: „An jenem Tag, an dem wir aus der Geschichte lernen und zu zugleich hinterfragen.“ Es ist auch jener Tag, an dem die Menschen aufhören, nur ihre persönlichen Erfahrungen zum Maßstab zu machen. Dann hören sie auch auf zu hören, was sie hören wollen und beginnen endlich zuzuhören. Anders Indset fordert: „wir brauchen eine holistische Auseinandersetzung mit der Welt, wie wir sie sehen, und ein Verständnis für deren Interdependenz. Alles hängt mit allem zusammen, mit einer einhergehenden Entkopplung.“ Anders Indset, gebürtiger Norweger, ist Philosoph, Publizist und erfolgreicher Unternehmer.

Weiterlesen

Extreme Wetterlagen nehmen signifikant zu

Durch die Auswirkungen der Erderwärmung auf die Menschen kann man fühlen, was die Erde fühlt. Die materiellen, medizinischen und sozialen Auswirkungen des globalen Fieberzustandes auf die Menschen sind gewaltig. Joachim Bauer nennt Beispiele: „Extreme Wetterlagen, vor allem lang anhaltende Hitzewellen und Orkane, nehmen weltweit signifikant zu.“ Hitzewellen machen nicht nur der Erde, sondern auch den Menschen schwer zu schaffen. Sie führen, vor allem in den ohnehin heißen Ländern dieser Erde, zu einem massiven Rückgang der Arbeitsproduktion. Überall auf der Welt belasten sie Herz und Kreislauf der Menschen. Ihren direkten oder indirekten Folgen erliegen weltweit alljährlich Millionen Menschen. Der Rückgang der landwirtschaftlichen Erträge wird eine Krise der globalen Ernährungssituation zur Folge haben. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.

Weiterlesen

Im Rechtsstaat ist Freiheit ein Angebot

Eine Gesellschaft erträgt die krassesten Unterschiede, weil alle frei sind und deshalb jeder Bürger bestimmte Unterschiede anstrebt. Paul Kirchhof weiß: „Der soziale Rechtsstaat allerdings sichert ähnliche Freiheitsbedingungen im Elementaren für jedermann.“ Freiheit ist ein Angebot. Auch die Demokratie ist darauf angelegt, dem Bürger die Freiheit der Mitwirkung im Staat zu belassen. Sie ist aber auch darauf angewiesen, dass der Bürger sich aus eigenem Freiheitsverständnis an Wahlen, Abstimmungen, auch an der öffentlichen Debatte beteiligt. Der freiheitliche Staat setzt sein Vertrauen in die Freiheitsfähigkeit und Freiheitsbereitschaft der Menschen. Freiheit ist zudem das Recht zur Beliebigkeit, soweit die kleinen Alltagsfreiheiten wahrgenommen werden. Der Mensch entscheidet nach eigenem Gutdünken. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

Weiterlesen

Das Limit des Zumutbaren wird neu justiert

Offensichtlich sind heute viele Menschen mehr denn je damit beschäftigt, das Limit des Zumutbaren neu zu justieren. Doch fährt sich der Diskurs darüber zunehmend fest. Liberale und Egalitäre, Rechte und Linke, Alte und Junge, Betroffene und Nicht-Betroffene stehen sich unversöhnlich gegenüber. Svenja Flaßpöhler stellt fest: „Der Effekt dieser Frontalstellung ist eine zunehmende Erosion der demokratischen Diskurskultur.“ Dabei entsteht ein kaum noch zu kittender Riss, der sich mitten durch die Gesellschaft zieht. Umso dringender ist zu fragen, wo ein Ausweg gefunden werden kann. Die aktuelle Situation ist mit der Genese des modernen Subjekts unauflöslich verbunden. Nämlich mit der zunehmenden Sensibilisierung des Selbst und der Gesellschaft. „Sensibel“ das meint: empfindlich, fühlbar, empfänglich. Svenja Flaßpöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des „Philosophie Magazin“.

Weiterlesen

Der Liberalismus muss sich reflexiv regenerieren

Im Zeitalter der Philosophen, der Aufklärung, geboren, hält der neuzeitliche Liberalismus ein weiteres Element für unverzichtbar. Zum Erfahrungsbezug, zu dem legitimatorischen Individualismus und dem freien Spiel der Kräfte innerhalb von Verfassung und Recht tritt eine handlungsrelevante Selbstkritik, sichtbar im Willen, sich angesichts neuer Herausforderungen zu verändern. Otfried Höffe stellt klar: „Ohne dieses Element, eine reflexive Regeneration ist der Liberalismus nicht zukunftsfähig; vor allem verdient er ohne es nicht, als aufgeklärt zu gelten.“ So hat sich der in Europa dominante Liberalismus längst um politische Mitwirkungsrechte und um freiheits- und demokratiefunktionale Sozialrechte erweitert. Otfried Höffe fordert die Grundelemente des Liberalismus in einer interkulturell verständlichen Sprache zu legitimieren. Otfried Höffe ist Professor für Philosophie und lehrte in Fribourg, Zürich und Tübingen, wo er die Forschungsstelle Politische Philosophie leitet.

Weiterlesen

Liebe macht das Leben reizvoll und süß

In seinem neuen Buch „40 verrückte Wahrheiten über Frauen und Männer“ stellt Michael Lehofer die These auf, dass Liebesbeziehungen mit einer immensen Heilserwartung verbunden sind. Das macht sie so attraktiv. Dennoch scheitern Menschen in ihrem Leben in der Regel an nichts so sehr wie an nicht gelungenen Liebesbeziehungen. Im Groben kann man sagen: Die einen werden süchtig, die anderen resigniert. Mit beiden versuchen die Betroffenen zu kompensieren, was unersetzlich ist: die Liebe. Michael Lehofer schreibt: „In der Liebe flutscht das Leid des Lebens gleichsam durch uns durch. Resignation und Süchtigkeit hingegen bewirken, dass sich das Leid quasi in uns staut. Liebe mach das Leben auf angenehme Weise reizvoll und süß, Resignation und Süchtigkeit verbittern es.“ Univ.-Prof. Dr. med. Dr. phil. Michael Lehofer ist ärztlicher Direktor und Leiter der einer Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Landeskrankenhaus Graz II.

Weiterlesen

In einem Staat entscheidet die Kommunikation

Das deutsche Volk ist, wie jedes andere Volk, vor allem eine Lebensgemeinschaft, eine Kommunikationsgemeinschaft und eine Haftungsgemeinschaft. Die Kinder von Türken und anderen Ausländer sind im Allgmeinen keine deutschen Staatsbürger. Selbst dann, wenn sie seit Jahrzehnten in Deutschland leben. Aber sie gehören zweifellos zur Kommunikationsgemeinschaft der Deutschen, weil sie mit ihnen und in Deutschland leben. Herkunft, Sprache oder auch die gemeinsame Geschichte gehören nicht mehr unbedingt zu den Kennzeichen der jeweiligen Gemeinschaft im Staat. Michael Wolffsohn ergänzt: „Doch dieser Staat bleibt trotz aller internationalen Verflechtungen der entscheidende Bezugspunkt der Kommunikation.“ Wenn etwas Erfreuliches passiert, stößt sich niemand an der gemeinsamen Haftungsgemeinschaft. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

Weiterlesen

Sizilianische Weine sind sehr gut und preiswert

Aldo Sohm mag die Weine Siziliens, weil sie sehr gute und preiswerte Essenbegleiter sind. Die Insel liefert auch dank ihres vielfältigen Mikroklimas unterschiedliche Weine. Hier findet man eine große Vielfalt von Rot- und Weißweinen und auch interessante in Tonamphoren ausgebaute Weine. Im Trentino gibt es tolle Rotweine, in Südtirol Italiens beste Weißweine und Pinot Noirs. Diese nördlichen Regionen stehen stark unter dem Einfluss der Alpen. Sie haben also eine kürzere Wachstumsperiode und kühlere Nächte, wobei letzteres wichtig für die Aromenentwicklung ist. Das Trentino liefert herzhafte Rotweine, meist aus der lokalen Traube Teroldego, und Weißweine aus Nosiola. Aldo Sohm und Christine Muhlke erklären: „Die weiße Pinot Bianco und die rote Schiava sind die Arbeitspferde im Trentino: elegant, leicht zu trinken und flexible Speisenbegleiter.“ Der Österreicher Aldo Sohm ist einer der renommiertesten Sommeliers der Welt, eine Legende seiner Branche. Christine Muhlke ist Redakteurin des Feinschmecker-Magazins „Bon Appétit“.

Weiterlesen

Ernährungsmythen sind weit verbreitet

Alle Menschen sind für Ernährungsmythen empfänglich. Wer Gaia-Überzeugungen anhängt, vielleicht noch etwas stärker als der Durchschnitt. Philipp Hübl erläutert: „Den Ausschlag geben hier nicht vernünftige Überlegungen oder wissenschaftliche Recherchen, sondern fast immer Emotionen.“ Menschen reduzieren zum Beispiel ein komplexes Thema auf einfache, aber irreführende Merksätze wie: „Natürlich ist gut, künstlich ist schlecht.“ So geben einige viel Geld für das „natürliche“ Fleur de Sel aus, Meersalz aus Salinen in Mallorca, Frankreich und Portugal. Es besteht zu 97 Prozent aus Natriumchlorid. Und es unterscheidet sich vom industriellen Speisesalz darin, dass es Spuren von Magnesiumsulfat enthält und daher bitter schmeckt. Himalaya-Salz klingt exotisch und sieht besonders wertvoll aus, besteht aber ebenfalls zu 97 Prozent aus Natriumchlorid. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

Weiterlesen

Demokratien leben von kollektivem Lernen

Ein weiteres Merkmal politischer Gleichheit ist, was Danielle Allen als epistemischen Egalitarismus bezeichnet. Wie alle politischen Systeme sind Demokratien auf erfolgreiche, kollektive Praktiken des Lernens und des Wissensmanagement angewiesen. Nur so können die richtigen Entscheidungen getroffen werden. Im Unterschied zu anderen Regierungsformen sind ihnen Verfahren zugänglich, welche die kollektive Entscheidungsfindung stärken. Denn sie können auf die Wissensressourcen der gesamten Bürgerschaft zurückgreifen. Daniele Allen stellt fest: „Menschen sind Schwämme, die Informationen über ihre Umwelt aufnehmen. Manche Schwämme sind besser als andere, aber saugfähig sind wir alle.“ Alle Menschen sind insofern gleich geschaffen, dass sie alle zum Aufsaugen bestimmt sind. Die Politikwissenschaftlerin und Altphilologin Danielle Allen lehrt als Professorin an der Harvard University. Zugleich ist sie Direktorin des Edmond J. Safra Center for Ethics in Harvard.

Weiterlesen

Das Individuum muss sich selbst erhöhen

Friedrich Nietzsche hat das Christentum immer wieder scharf kritisiert. Dabei schätzte er die Gottesvorstellung als lebensfeindlich ein. Nach dem Tod Gottes muss der Mensch folgenden Leistungen vollbringen. Friedrich Nietzsche schreibt: „Das Individuum steht da, genötigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künste und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung.“ Oder mit einem Wort Zarathustras: „Ich nahm euch Alles, den Gott, die Pflicht – nun müsst ihr die größte Probe einer edlen Art geben.“ Christian Niemeyer erklärt: „Den Hervorhebungen Nietzsches zufolge wäre das Übermenschen-Konstrukt also in der praktischen Philosophie zu beheimaten. Und dies mit dem Auftrag, jener Gefahr des Nihilismus entgegenzutreten.“ Lesen freilich will gelernt sein, Friedrich Nietzsche lesen ohnehin, aber auch ganz allgemein. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an. der TU Dresden.

Weiterlesen

Jeder sollte die Kunst des Verstehens erlernen

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazins 01/2023 kreist um die Frage: „Kannst du mich verstehen?“ Denn verstanden zu werden, ist existenziell. Wenn auf Dauer keine Verbindung zwischen Innen und Außen besteht, ist Gefahr im Verzug. Auch auf der gesellschaftlichen Ebene erleben die Deutschen gerade, wie tief der Spalt sein kann, den wechselseitiges Unverständnis erzeugt. Auf kein Verständnis zu stoßen, führt im persönlichen Bereich zu Frustrationen, auf der gesellschaftlichen Ebene gar zu Hass. Umso dringender ist es, die Kunst des Verstehens zu erlernen, die Voraussetzungen ihres Gelingens zu kennen. Theresa Schouwink schreibt: „Generell fällt es leicht, in der sogenannten polarisierten Gesellschaft eine Krise des Verstehens zu diagnostizieren.“ Auch das Verstehen über Generationen hinweg, zwischen rücksichtslosen „Boomern“ und übersensiblen „Schneeflocken“, scheint zunehmen schwierig.

Weiterlesen

Überzeugungen sind nicht sehr rational

Alle Menschen sind irrational – auch die, die von ihrer Rationalität überzeugt sind. Der Neurologe, Psychiater und Hirnforscher Philipp Sterzer erklärt in seinem Buch „Die Illusion der Vernunft“, warum das so ist und welche Schlüsse man daraus ziehen kann. Der Autor beschäftigt sich schon lange mit der Frage, wie Überzeugungen entstehen. Dabei hat er Erstaunliches herausgefunden: Überzeugungen sind viel weniger rational, als man bisher geglaubt hat. Das menschliche Gehirn baut Welten, die richtig und vernünftig erscheinen. Tatsächlich ist die Wahrnehmung eines Menschen Fantasie, die mal mehr, mal weniger mit der Welt da draußen übereinstimmt. Überzeugungen implizieren also Irrationalität und manchmal auch Verrücktheit. Im Jahr 2011 berief man Philipp Sterzer zum Professor für Psychiatrie und computationale Neurowissenschaften an die Charité in Berlin. 2022 wechselte er an die Universität Basel.

Weiterlesen

In Deutschland gibt es 800 Typen von Biotopen

Biodiversität ist ein Mosaik aus unüberschaubar vielen Steinchen, riesig großen und winzig kleinen, die sich in drei Kategorien einteilen lassen. Dirk Steffen und Fritz Habekuss erläutern: „Da ist erstens die Vielfalt der Ökosysteme, also der Lebensräume wie Wälder, Flüsse, Meere oder Almwiesen. Alleine in Deutschland gibt es 800 verschiedene Typen von Biotopen.“ Die Liste reicht von Ästuarien, also Flussmündungen mit Brackwasser, Sandbänken, Schlickgrasbeständen über trockene, lebende Hochmoore und Kalktuffquellen bis hin zu Kalkschiefer-Schutthalden, Hangmischwäldern und Gletschern. In einem fühlt sich der Rotfuchs wohl, in einem anderen die Miesmuschel und in dem nächsten vielleicht der Dunkle Ameisenbläuling. In ihrem Buch „Über Leben“ erzählen der Moderator der Dokumentationsreihe „Terra X“ Dirk Steffens und Fritz Habekuss, der als Redakteur bei der „ZEIT“ arbeitet, von der Vielfalt der Natur und der Schönheit der Erde.

Weiterlesen

Andreas Reckwitz beschreibt das kuratierte Leben

Das spätmoderne Subjekt konzentriert sich in der neuen Mittelklasse. Es befindet sich seiner Welt und seinem Leben gegenüber in der Haltung eines Kurators – es lebt ein kuratiertes Leben. Andreas Reckwitz erläutert: „Der Kurator erfindet nicht von Grund auf Neues, er stellt klug zusammen.“ Er wählt aus, eignet sich Kunstwerke und Traditionen an. Er macht Dinge erst zu Ausstellungsstücken, bindet scheinbar Disparates mittels eines kenntnisreichen und überzeugenden Konzeptes zusammen. Kuratieren ist „im Prinzip ein Tun, bei dem Dinge zusammengefügt werden“. Die Praxis des Kuratierens lässt sich nun auf den spätmodernen Lebensstil insgesamt übertragen. Aus den ästhetischen Bewegungen der Moderne ist der Imperativ bekannt, man solle aus seinem Leben ein Kunstwerk machen. Also gewissermaßen als Künstler agieren. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt / Oder.

Weiterlesen

Eine Weltformel gibt es nicht

Die 100 Jahre seit Werner Heisenberg waren in der theoretischen Physik davon geprägt, Relativitätstheorie und Quantentheorie zusammenzuführen. Und zwar zu einer einzigen „Theory of Everything“, die alle Bewegungen von Galaxienhaufen bis zur subatomaren Ebene mathematisch beschreiben könnte. Fabian Scheidler weiß: „Das Ergebnis ist trotz der enormen Forschungsanstrengungen und Investitionen sehr bescheiden. Weder gibt es heute eine solche Theorie noch weiß irgendjemand, ob es sie überhaupt geben kann.“ Es ist verständlich, dass Physiker nach einer Vereinheitlichung verschiedener Theorien suchen. Denn solche Zusammenführungen waren bei Isaac Newton, James Clerk Maxwell und Albert Einstein sehr erfolgreich. Aber für unvoreingenommene Beobachter ist nicht ersichtlich, warum so etwas wie eine „Weltformel“ möglich sein sollte. Der Publizist Fabian Scheidler schreibt seit vielen Jahren über globale Gerechtigkeit.

Weiterlesen

Das Antikorrekte lebt vom Unterschwelligen

Das Korrekte kennt Übertreibungen, das Antikorrekte lebt vom Unterschwelligen. Der reaktionäre Kampf gegen die politische Korrektheit setzt auf das Unausgesprochene, den Subtext. Denn der insistiert, was viele Konservative zwar denken, aber nicht allzu deutlich formulieren möchten. Der „Gutmensch“ ist gefährlicher als der Brutalo, die Feministin schlimmer als der Diskriminierer oder Belästiger, Antirassisten sind Rassisten. Ihr Antirassismus ist Rassenhass auf weiße Männer. Roger de Weck ergänzt: „Das wirkliche Opfer ist der früher dominante und heute missachtete Mann. Ihm die Führung streitig zu machen, bringt jedoch nicht Gleichstellung, sondern Unfreiheit.“ Emanzipation stürzt die Frauen in einen repressiven Genderwahn, die Afroamerikaner in eine kulturrassistische Gefangenschaft und verzagte Weiße in Trumps Arme. Derlei Botschaften verkünden die wenigsten Reaktionäre und Konservativen rundheraus. Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

Weiterlesen

Friedrich Nietzsche verkündet den Tod Gottes

Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) verkündet öffentlich den Tod Gottes. Er steht damit eher am Ende als am Beginn einer langen Geschichte banger und finsterer Ahnungen. Diese nahmen ihren Anfang schon ein Jahrhundert zuvor. Ger Groot weiß: „Schon 1796 hatte der deutsche Romancier und Publizist Jean Paul in seinem Roman „Siebenkäs“ einen Text aufgenommen, der seiner Zeit weit voraus war.“ Er lässt darin den toten Christus vom Weltgebäude herab reden, dass es keinen Gott gibt. Jesus sprach zu den gestorbenen Kindern: „Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“ Das erinnert unvermeidlich daran, was Friedrich Nietzsche gut achtzig Jahre später in „Die fröhliche Wissenschaft“ schreibt. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Außerdem ist Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

Weiterlesen

James Suzman kennt die Geschichte des Lebens

Die lange Geschichte des Lebens auf der Erde beruht nach heutiger Auffassung auf der Fähigkeit des Lebens, Energie aus fortschreitend neuen Quellen zu gewinnen. James Suzman erläutert: „Zuerst aus der Wärme des Erdmantels, dann aus dem Sonnenlicht, dann aus Sauerstoff und schließlich auch aus dem Fleisch anderer Lebewesen.“ Parallel dazu entwickelten sich zunehmend komplexere, energiehungrigere und mehr Arbeit im physikalischen Sinn leistende Lebensformen. Die ersten Lebewesen auf dem Planeten Erde waren mit großer Sicherheit einfache einzellige Organismen. Diese besaßen, wie die Bakterien, weder einen Zellkern noch Mitochondrien. Sie „ernährten“ sich wahrscheinlich von der durch biochemische Reaktionen zwischen Wasser und Gestein freigesetzten Energie. Dabei lernten sie diese Energie auf ein hochspezialisiertes Molekül zu übertragen. James Suzman ist Direktor des anthropologischen Thinktanks Anthropos und Fellow am Robinson Collage der Cambridge University.

Weiterlesen

Die Individualisierung schreitet voran

Von der Einzelheit her lassen sich Gesellschaftstypen unterscheiden. Nämlich je nachdem ob sie die Einzelheit begünstigen oder gar zum Gesellschaftszweck erheben oder sie eher hemmen. Es geht also nicht nur darum, wie viel Einzelheit der Mensch überhaupt will und erträgt. Sondern es geht auch darum, welche gesellschaftlichen Begünstigungen oder Beeinträchtigungen er dabei erfährt. Rüdiger Safranski stellt fest: „Vieles spricht dafür, dass es, vor allem in Westeuropa, eine gesellschaftliche Entwicklung in Richtung Individualisierung gegeben hat und noch gibt.“ Zuletzt hat der Soziologe Andreas Reckwitz mit Blick auf die Spätmoderne von einer „Logik des Singulären“ gesprochen. Schon Norbert Elias hatte die Grundzüge dieser Entwicklung analysiert. Rüdiger Safranski arbeitet seit 1986 als freier Autor. Sein Werk wurde in 26 Sprachen übersetzt und mit vielen Preisen ausgezeichnet.

Weiterlesen