Alles könnte auch anders sein

Nichts, buchstäblich nichts, ist mit absoluter Notwendigkeit so, wie es gerade ist. Daraus lässt sich ableiten, dass alles auch anders sein könnte. Armin Nassehi erklärt: „Der Fachbegriff dafür ist Kontingenz. Er meint: nichts ist notwendigerweise so, wie es ist, aber eben auch nichts ist zufällig so, wie es ist.“ Das sozialwissenschaftliche Denken beginnt also mit einer doppelten Erfahrung. Einerseits weiß man am besten von allen, wie arbiträr, bisweilen sogar fragil, in jedem Fall aber historisch relativ und damit konstruiert das Meiste ist. Andererseits weiß man mit am genauesten, wie wirkmächtig gesellschaftliche Muster sind und wie stark das menschliche Verhalten strukturiert ist. Das individuelle Verhalten wie auch der Zustand sozialer Aggregate sind sehr berechenbar. Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Der Neue Moralische Realismus klärt auf

Markus Gabriel stellt die ethischen Grundbegriffe der neuen Aufklärung vor, die sich aus einigen Kernthesen ergeben. Die Kernthesen des Neuen Moralischen Realismus lauten wie folgt. Erstens gibt es von den Privat- und Gruppenmeinungen unabhängige moralische Tatsachen. Diese bestehen objektiv. Zweitens sind die objektiv bestehenden moralischen Tatsachen durch den Menschen erkennbar, also geistabhängig. Sie richten sich an Menschen und stellen einen Moralkompass dessen dar, was man tun soll, tun darf oder verhindern muss. Sie sind in ihrem Kernbestand offensichtlich und werden in dunklen Zeiten durch Ideologie, Propaganda, Manipulation und psychologische Mechanismen verdeckt. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

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Die Masse ist unfähig zu einem eigenen Urteil

Silvio Vietta stellt fest: „Das 19. und auch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts waren keine glücklichen Zeiten für Europa und die Weltgemeinschaft.“ Demographisch nahm die Bevölkerung in Mitteleuropa dramatisch zu. Das ging einher mit einer enormen Urbanisierung, auch Proletarisierung der Bevölkerung. Sie bildete den Hintergrund für jene Theorie der „Masse“, wie sie Gustave le Bon in seinem Buch „Psychologie der Massen“ von 1895 beschrieben hat. Dabei handelt es sich um einen Typus der denkunfähigen und denkunwilligen Masse. Diese ist nach Gustave le Bon unfähig zu eigenem Urteil. Daher ist sie anfällig für suggestive Wörter, Bilder und emotionale Rede und somit Wachs in den Händen von Diktatoren. Prof. em. Dr. Silvio Vietta hat an der Universität Hildesheim deutsche und europäische Literatur- und Kulturgeschichte gelehrt.

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Menschen können ihr Schicksal selbst bestimmen

Wahrscheinlichkeit ist keine neue Idee. Es gibt schon lange die Vorstellung, dass die Menschen der Zukunft nicht passiv entgegensehen müssen. Sondern sie können ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Dies wurde einstmals als Selbstbehauptung gegen die Götter gesehen sowie gegen die unergründliche Natur. Es ist für Jonathan Aldred kein Zufall, dass moderne Konzepte über Wahrscheinlichkeiten sich in der westlichen Gesellschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts endgültig durchsetzen. Denn dies geschah zu einer Zeit, als der eiserne Griff der Kirche sich durch den Triumph der Aufklärung zu lockern begann. Probabilistisches Denken stand für den zuversichtlichen Glauben, die stoische Unterwerfung unter Ungewissheiten durch Fortschritt hinter sich lassen zu können. Jonathan Aldred ist Direktor of Studies in Ökonomie am Emmanuel College. Außerdem lehrt er als Newton Trust Lecturer am Department of Land Economy der University of Cambridge.

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Die Natur gilt als Bedingung der nachhaltigen Freiheit

Die Natur gilt für Katia Henriette Backhaus nicht als vorpolitischer Raum, sondern soll als Bedingung der nachhaltigen Freiheit gelten. Dadurch, dass sie auch die Freiheitsakte zu einem Teil ihres Konzepts nachhaltiger Freiheit macht, wächst zudem die Bedeutung der Konsequenzen freien Handelns. Weshalb ist die Einbeziehung der Freiheitsakte so wichtig? Denn es ist es unzulänglich, Freiheit nur in Form von Möglichkeiten zu denken. Freiheit kann man nur dann erfahren, wenn sie zum konkreten Akt, also realisiert, wird. Allein die Möglichkeit zu haben, etwas zu tun, garantiert nicht, dass alle Hindernisse beseitigt sind. Oder dass die Konsequenz, die sich aus dieser Möglichkeit ergibt, wirklich erwünscht ist. Katia Henriette Backhaus hat an der Universität Frankfurt am Main promoviert. Sie lebt in Bremen und arbeitet als Journalistin.

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Die Liebe ist von starker Sehnsucht geprägt

Die stärkste Sehnsucht des Menschen gilt seit seiner Geburt der Erfahrung der Liebe. Und sie ist für ein gelingendes Leben von entscheidender Bedeutung. Wie man die Liebe allerdings lernt, gehört keineswegs zum Allgemeinwissen. Wenn Albert Kitzler in seinem neuen Buch „Die Weisheit der Liebe“ von Liebe spricht, dann meint er damit wesentlich mehr als die partnerschaftliche Liebe: „Unter Liebe soll hier jede Art von starker Sehnsucht nach etwas verstanden werden.“ Sehr vieles kann Sehnsucht auslösen, und immer ist ihre Erfüllung eine Art von Liebe, nämlich eine Vereinigung mit dem Ersehnten, die in einem Menschen Freude und Glück auslöst. Der Philosoph und Medienanwalt Dr. Albert Kitzler gründete 2010 „Maß und Mitte – Schule für antike Lebensweisheit und eröffnete ein Haus der Weisheit in Reit im Winkl.

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Der Lebensschwung beansprucht Dynamik

Das Titelthema des neuen Philosophie Magazin 05/2023 beschäftigt sich diesmal mit der Frage: „Woher kommt der Lebensschwung?“ Wodurch die Existenz ins Schwingen gebracht wird, ist ganz unterschiedlich. Das kann eine Berührung sein oder eine Begegnung mit einem Menschen. Für Chefredakteurin Svenja Flaßpöhler ist jedoch eines ganz grundsätzlich klar: „Das Ja zum Leben – die Lebendigkeit – muss mit einem Mehr, mit einem Überschuss zu tun haben. Mit Momenten, die nicht einfach dem biologischen Lebenserhalt dienen, sondern den Sinn der Existenz unmittelbar fühlbar machen.“ Während der Lebensschwung Dynamik beansprucht, ist ein Dasein, das sich in Arbeit und Pflichterfüllung erschöpft, starr. Heutzutage stehen sich zwei Existenzformen diametral gegenüber: Auf der einen Seite die Pflicht, auf der anderen Seite die Lust. Der Lebensschwung weist auf einen dritten gangbaren Weg hin. Regel und Freiheit, Pflicht und Lust sind in ihm dialektisch verschränkt zu einer ganz anderen Existenzweise.

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Die Neue Rechte hängt an Rollenklischees

„Weiber weiblich, Männer männlich“, befand Effi Briests alter Vater. Roger de Weck betont: „Die Neue Rechte hängt an Rollenklischees. Diese amüsierten schon Theodor Fontane 1895.“ „Wehrhaftigkeit, Weisheit und Führung beim Mann. Intuition, Sanftmut und Hingabe bei der Frau“, so teilt der rechtsextreme Politiker Björn Höcke die Eigenschaften zu. Das Sprachrohr der Neuen Rechten, die „Junge Freiheit“ sieht sowohl die Unterlegenheit der Frau als auch den Untergang des Mannes. Man liest dort: „Frauen sind eben Frauen und können sich daher nur bedingt das Männliche aneignen. Indem sie es versuchen und sich mit Männern auf dem Gebiet des Männlichen messen, können sie nur verlieren.“ Ähnlich befindet Michel Houellebecq: „Der größte Feind, den unsere westliche Gesellschaft auszumerzen versucht, ist das männliche Zeitalter, ist die Virilität an sich.“ Roger de Weck ist ein Schweizer Publizist und Ökonom.

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Es gibt viele Spielarten des Rassismus

Der Begriff „Rassismus“ ist für viele in Deutschland ein rotes Tuch für den gerne extremistische Menschen verantwortlich gemacht werden. Man redet nicht gerne darüber, weil viele ihn mit den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus assoziieren. Hadija Haruna-Oelker weiß: „Doch finden sich rassistische Menschen, Strukturen und Sprache bis heute in unserer Mitte. Rassismus zeichnet sich durch seine Permanenz, Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit aus.“ Nach dem Soziologen Robert Miles machte man mit dem Rassismus-Begriff erstmals auf die rassistischen Vorgänge im 18. und 19. Jahrhundert aufmerksam. Das damalige Europa war das Zentrum in der Entstehung rassistischer Ideologie. Er etablierte sich als europäische Denktradition unter dem Schirm der Wissenschaft. Hadija Haruna-Oelker lebt als Autorin, Redakteurin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Hauptsächlich arbeitet sie für den Hessischen Rundfunkt.

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Kinder können den Eltern sehr gut tun

Zwei jüngere Freundinnen von Karl-Markus Gauß haben jetzt, ehe es zu spät für sie geworden wäre, doch noch Kinder bekommen. Er freut sich für sie, nicht weil er glaubt, dass es die Berufung der Frau wäre, Mutter zu werden. Vielmehr weil Karl-Markus Gauß erfahren hat, wie gut einem Kinder tun können. Ihn haben die seinen von der schweren Krankheit des Zynismus, der ihn an Leib und Seele zu zersetzten drohte, geheilt. So haben sie ihn vor dem selbst verschuldeten Untergang gerettet. Wer Kinder hat, kann sich nicht gemütlich in seinem Weltverdruss einrichten. Ebenso wenig darf er als Kollaborateur des Missglückenden darauf setzen, dass die Dinge ihn schon in der schlechten Meinung, die er von ihnen hat, bestätigen werden. Karl-Markus Gauß lebt als Autor und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ in Salzburg. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet.

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Johann Wolfgang von Goethe ritt von Weimar nach Jena

Am 20. Juli 1794 ritt Johann Wolfgang von Goethe von seinem Haus im Zentrum Weimars nach Jena, wo er an einer Sitzung der neu gegründeten Naturforschenden Gesellschaft teilnehmen wollte. Andrea Wulf blickt zurück: „Auf dem gut zwanzig Kilometer langen Weg von Weimar nach Jena kam Goethe an Bauern vorbei, die auf goldenen Feldern Weizen ernteten.“ Zwei Stunden ritt er durch flaches Ackerland, dann änderte sich die Landschaft allmählich. Kleiner Dörfer und Weiler schmiegten sich in sanfte Senken, dann wurde der Wald dichter und die Felder verschwanden. Die Gegend prägten nun Hügel. Als Autorin wurde Andrea Wulf mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet, vor allem für ihren Weltbestseller „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ 2016, der in 27 Sprachen übersetzt wurde.

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Macht kann aktiv oder passiv wirken

Es gibt die sehr eingängige Vorstellung, dass soziale Macht eine Fähigkeit ist, die Menschen als soziale Akteure haben, um den Verlauf der Dinge in der Gesellschaft zu beeinflussen. Miranda Fricker hält zunächst einmal fest, dass Macht aktiv oder passiv wirken kann: „Zwischen aktiver und passiver Macht besteht ein Abhängigkeitsverhältnis. Denn die passive Macht schwindet im gleichen Maße, in dem die aktive Macht schwindet.“ Ein zweiter Punkt ist folgender: Macht ist eine Fähigkeit, die auch in jenen Zeiten Bestand hat, in denen sie nicht ausgeübt wird. Michel Foucault behauptet bekanntlich: „Macht existiert nur in actu.“ Miranda Fricker ist Professorin für Philosophie an der New York University, Co-Direktorin des New York Institute für Philosophy und Honorarprofessorin an der University of Sheffield.

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Die Physik bildet die Basis für viele Erfindungen

Die Physik galt lange als die Leitwissenschaft der Neuzeit. Ihr Anspruch war, zu ergründen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Das beginnt bei den kleinsten subatomaren Größenordnungen und endet bei den Weiten des Universums. Fabian Scheidler stellt fest: „Sie war und ist einerseits die philosophischste aller Wissenschaften, weil sie die letzten Fragen über Wesen und Ursprung von Materie, Zeit, Raum und Energie zu beantworten suche. Andererseits bildeten ihre Entdeckungen auch die Grundlage für entscheidende technische Erfindungen.“ Diese erlangten erhebliche Bedeutung für die Geschichte des modernen Weltsystems. Als Beispiele nennt Fabian Scheidler die Entwicklung der Feuerwaffen, die Erfindung der Dampfmaschine, des Verbrennungsmotors, des Fernsehens, der Atombombe und des Internets. Der Publizist Fabian Scheidler schreibt seit vielen Jahren über globale Gerechtigkeit.

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Gefahren sind schwer einzuschätzen

Zu den schwierigsten Dingen für den menschlichen Verstand gehört es, Gefahren realistisch einzuschätzen. Konkrete Bedrohungen des Alltags sind noch relativ leicht abzuschätzen. Als Beispiele nennt Richard David Precht mulmige Situationen in der nächtlichen Großstadt oder in einem Park, die Gefahr abzustürzen, sich zu vergiften oder überfahren zu werden. Ganz anders aber sieht die Sache aus, wenn man allgemeine Lebens- und Todesrisiken überschauen muss. Richard David Precht erläutert: „Unser animalischer Instinkt für Gefahren wird schnell machtlos und weicht auffälligen Fehleinschätzungen. So überschätzt man etwa die Gefahr, in Deutschland durch einen islamistischen Terroranschlag zu sterben, maßlos.“ De facto ist es hierzulande wahrscheinlicher, bei einem Blitzschlag ums Leben zu kommen, als durch ein entsprechendes Attentat. Der Philosoph, Publizist und Autor Richard David Precht einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum.

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Pluralität ist das zentrale Thema von Hannah Arendt

Es gibt ein Motiv, dass sich wie ein roter Faden durch alle Publikationen von Hannah Arendt zieht. Es handelt sich dabei um die Pluralität. Juliane Rebentisch erklärt: „Die Überzeugung, dass die Entfaltung menschlicher Würde auf Pluralität angewiesen ist, bestimmt ihren Begriff der Öffentlichkeit und ihre Unterscheidung von Macht und Herrschaft.“ Sie motiviert Hannah Arendts Kritik der modernen Arbeitsgesellschaft ebenso wie ihre Aversion gegen die Gleichsetzung von Souveränität und Freiheit sowie den Sog der Brüderlichkeit. Sie ist in ihrer frühen Kritik der Assimilation ebenso präsent wie im Spätwerk über das Denken und Urteilen. Kurz: Hannah Arendts Texte kann man in wesentlichen Zügen als Beiträge zu einer „Apologie der Pluralität“ lesen. Juliane Rebentisch ist Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.

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Moralische Urteile geben kein Wissen wieder

In den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war das Wichtigste an der Moral die Frage nach ihrer kognitiven Dimension. Das bedeutet nicht, dass in der gesellschaftlichen Erfahrung ihr Wahrheitsanspruch im Vordergrund gestanden wäre. Alexander Somek weiß: „In gewisser Weise war das Gegenteil der Fall. Vor vierzig oder fünfzig Jahren verstanden sich viele als Relativisten oder gar Skeptiker.“ Die Moral der Gegenwart ist davon auffällig verschieden. In der Praxis des moralischen Urteils manifestiert sich ein Selbstverständnis über die Bedeutung des moralischen Urteils. Das entspricht in der Metaethik dem, was man gemeinhin als „Emotivismus“ bezeichnet. Nach emotivistischer Auffassung geben moralische Urteile kein Wissen wieder. Sie haben keinen kognitiven Gehalt. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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So schmeckt Venedig

Lange bevor Wolfgang Salomon begann, sich mit der venezianischen Kultur und dem nicht immer so glanzvollen Leben im Hier und jetzt zu beschäftigen, war der Besuch in einem Bàcaro oder in einer erdigen Osteria der krönende Abschluss nach einem erlebnisreichen Tag in seiner Lieblingsstadt. Aber egal in welch abgelegenen Winkel Venedigs es Wolfgang Salomon im Laufe der Jahre verschlug, Essen und Trinken war im Grunde immer das Thema. So lernte er auf seinen Erkundungsgängen und -fahrten unzählige Alimentari, Caffès, Bars, Osterien, Trattorien, Ristoranti, aber auch die Toplokale der venezianischen Lagune kennen. Für sein neues Buch hat der Autor über ein Jahr lang in Venedig recherchiert. Herausgekommen ist dabei sein rein subjektives Kompendium mit über 200 Adressen empfehlenswerter Lokalitäten. Jedes ist ein kleiner lukullischer Mikrokosmos für sich. Wolfgang Salomons Begeisterung für Venedig kennt keine Grenzen. Immer wieder entdeckt der Bestsellerautor neue Facetten der Serenissima – kulinarisch wie kulturell.

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Der Staat muss seine Befugnisse begrenzen

Sicherheit und öffentlicher Frieden setzen voraus, dass der Staat die Gestaltung des individuellen Lebens in der Freiheit des Bürgers belässt. Und dass er im Freiheitsvertrauen auf die Redlichkeit und Tüchtigkeit seiner Bürger und Wähler seine eigenen Aufgaben und Befugnisse begrenzt. Paul Kirchhof erläutert: „Gemeinschaftliche Lebensbereiche wie die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kunst, insbesondere das Familienleben bleiben in privater Hand.“ Diese Freiheit schafft Vielfalt. Sie setzt auf die Bereitschaft zum Wagnis, erwartet neue Entwicklungen, erlaubt Korrektur und Erneuerung auch im Prinzipiellen. Das Grundgesetz fordert vom Staat, dass er um des inneren Frieden willen die Frage nach der religiösen Wahrheit offenlässt. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg. Als Richter des Bundesverfassungsgerichts hat er an zahlreichen, für die Entwicklung der Rechtskultur der Bundesrepublik Deutschland wesentlichen Entscheidungen mitgewirkt.

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Pflanzen sind die Grundlage der menschlichen Existenz

In der neuen Sonderausgabe des Philosophiemagazins dreht sich alles um das Thema „Pflanzen“. Chefredakteurin Jana Glaese schreibt: „Pflanzen sind die Wurzeln dieser Welt. Ohne sie hätten wir weder Sauerstoff zum Atmen noch Nahrung zum Überleben. Sie sind die Grundlage unserer körperlichen Existenz. Und viel mehr als das.“ Manchen Menschen geben Pflanzen auch eine tiefe seelische Orientierung. Im Wald zum Beispiel finden sie Rückzug und Resonanz, in der Interaktion mit Pflanzen Entschleunigung und innere Ruhe. Überhaupt scheint die Pflanzenwelt immer mehr als Vorbild zu dienen, etwa für andere Formen des Zusammenlebens auf diesem Planeten. Aber das Handeln vieler Menschen gegenüber der Natur zeugt bei Weitem nicht immer von Achtsamkeit und Anschmiegung, sondern oft von Distanz und Herrschaftswillen. Bis heute beansprucht der Mensch seine Verfügungsgewalt über die Flora. Er rodet Wälder, modifiziert Arten, bedient sich der Böden – bis zur Erschöpfung.

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Nichts in dieser Welt ist dauerhaft

Indem Buddha feststellt „alles ist Leiden“, erinnert er daran, dass das Leben von der Geburt bis zum Tod aus einer Folge schmerzlicher Erfahrungen besteht. Frédéric Lenoir ergänzt: „Und selbst wenn wir einen glücklichen Moment erleben, bleibt dieser doch zerbrechlich.“ „Alles ist unbeständig“, auch das lehrt Buddha. Nichts in dieser Welt ist dauerhaft und für immer festgeschrieben. Genauso ist es mit den Begierden der Menschen. Viele leiden darunter, dass sie das, was sie begehren, nicht besitzen werden. Zweitens leiden sie an der Angst, dass sie verlieren, was sie besitzen. Drittens schließlich leiden sie am Verlust dessen, was sie besessen haben. Es sieht also in der Tat so aus, was wäre das Böse im Alltag weitaus gegenwärtiger als das Gute. Wenngleich das natürlich von einem zum anderen Individuum deutlich variieren kann. Frédéric Lenoir ist Philosoph, Religionswissenschaftler, Soziologe und Schriftsteller.

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Vor Friedrich Nietzsche gab es keine Psychologie

Friedrich Nietzsche schreibt in „Jenseits von Gut und Böse“: „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede große Philosophie bisher war. Nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires.“ Laut Christian Niemeyer ging des dem Philosophen darum, „den Denker durch den Menschen zu erläutern.“ Friedrich Nietzsche hatte die Absicht die Psychologie als „Herrin der Wissenschaften“ zu etablieren. In „Die fröhliche Wissenschaft“ heißt es: „Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach dem Verhältnis von Gesundheit und Philosophie.“ Eine andere Bemerkung aus „Ecce homo“ lautet: „Wer war überhaupt vor mit unter den Philosophen Psycholog und nicht viel mehr dessen Gegensatz höherer Schwindler, Idealist? Es gab vor mir noch gar keine Psychologie.“ Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe Prof. Dr. phil. habil. Christian Niemeyer lehrte bis 2017 Sozialpädagogik an der TU Dresden.

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Die Globalisierung hat auch negative Folgen

Die Globalisierung wirkt sich sowohl auf die Arbeitsplätze als auch auf die Löhne aus. Ein hoch entwickeltes Land wie die USA importiert arbeitsintensive Güter, die gering qualifizierte Arbeitskräfte herstellen. Dadurch sinkt die Nachfrage nach Geringqualifizierten in den USA, einfach deshalb, weil man weniger von diesen Gütern im Inland produziert. Joseph Stiglitz weiß: „Wenn wir Vollbeschäftigung anstreben, müssen die Löhne für Geringqualifizierte – inflationsbereinigt sinken. Und wenn die die Löhne nicht in ausreichendem Maße zurückgehen, steigt die Arbeitslosigkeit.“ Jeder, der an das Gesetz von Angebot und Nachfrage glaubt, sollte verstehen, warum sich die Globalisierung negativ auf gering qualifizierte Beschäftigte auswirkt. Joseph Stiglitz war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford. Er wurde 2001 mit dem Nobelpreis für Wirtschaft ausgezeichnet.

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Identität kann erworben und verdient werden

Es gibt angeblich eine zentrale Bedeutung der Entdeckung „zu wissen, wer man ist“. Der Politiktheoretiker Michael Sandel hat diese Behauptung auf erhellende Weise erklärt: „Gemeinschaft beschreibt nicht nur, was sie als Mitbürger haben, sondern auch, was sie sind. Es handelt sich dabei nicht um eine Beziehung, die sie wählen, sondern um eine Bindung, die sie entdecken. Das ist nicht nur ein Attribut, sondern ein konstituierender Bestandteil ihrer Identität.“ Amartya Sen weiß: „Die Entdeckung, wo wir stehen, ist jedoch nicht der einzige Weg zu einer bereichernden Identität. Diese kann auch erworben und verdient werden.“ Menschen sind nicht in ihre vorgefundenen Standorte und Zugehörigkeiten eingesperrt. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.

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Orte der Versuchung schärfen die Mündigkeit

Die Mündigkeit wächst in Zonen der Verführung und der Rechtsfreiheit. Ulf Poschardt fügt hinzu: „Sie sind selten und in Rechtsstaaten kaum toleriert, aber in Teilen geduldet. Als Freiheitslabore aber sind sie Inkubatoren von Glück, Fortschritt und jeder Menge wunderbarer Sauereien.“ Die Fähigkeit zur Gewissensentscheidung ist eine Voraussetzung für Mündigkeit. Daher sind die Orte der Versuchung eine wichtige Prüfung, um seine Mündigkeit zu schärfen. Als Verfassungspatriot neigt man zu Nulltoleranz gegenüber rechtsfreien Räumen. Den Deutschen, linken wie rechten, ist kein Vorwand zu blöd, um über die Einschränkung von Freiheitsräumen nachzudenken. Im Nachtleben wären mehr Kontrollen tödlich, zumindest für den freien Geist des Nachtlebens, jener Mischung aus Balz, Bordeaux und Petting. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

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Die Frühe Neuzeit ist das Zeitalter der Überreichweiten

In seinem neuen Buch „Überreichweiten“ setzt sich Martin Mulsow mit neuen Perspektiven einer globalen Ideengeschichte auseinander. Im Fokus bei diesem Unternehmen stehen dabei transnationale und vor allem transkulturelle Verbindungen von Wissensbeständen. Dabei ist für Martin Mulsow Unverbundenheit ein genau so wichtiger Umstand wie Verbundenheit. Der Autor weiß: „Jede transkulturelle Forschung ist notwendigerweise standortgebunden. Das hängt mit der jeweils eigenen intellektuellen Sozialisierung zusammen.“ Und eine globale Ideengeschichte ist nicht anders als in Fallstudien zu betreiben. In seinem Buch interpretiert Martin Mulsow die Frühe Neuzeit als ein Zeitalter der Überreichweiten. Als eine Zeit, in der Quellen aus nah und fern sozusagen dasselbe funkten, ohne dass man mit dieser Verdopplung zurechtkam und sie manchmal nicht einmal bemerkte. Martin Mulsow ist Professor für Wissenschaftskulturen an der Universität Erfurt und Direktor des Forschungszentrums Gotha.

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