Platons Staat hat repressive Strukturen

Barbara Schmitz weiß: „In der Philosophie finden sich bei Platon Überlegungen dazu, dass es bestimmte Arten des Lebens gibt, die nicht wert sind, gelebt zu werden.“ Platon entwirft in der „Politeia“ einen Staat, der sich nicht nur durch repressive Strukturen auszeichnet. Im Hinblick auf Menschen mit Behinderung stellt Platon fest: „Wer körperlich nicht wohlgeraten ist, den sollen sie sterben lassen. Wer seelisch missraten und unheilbar ist, den sollen sie sogar töten.“ Hintergrund ist für Platon nicht nur das Ideal von Schönheit und Jugendlichkeit, das das Denken der Antike vielfach prägte. Barbara Schmitz ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin in Basel.

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Hoher Bildungsstand sorgt für moralischen Fortschritt

Bildung ist ein wichtiger Faktor für moralischen Fortschritt. Deutsche mit niedriger Bildung sind eher menschenfeindlich. Sie lehnen beispielsweise Muslime zu 24 Prozent oder Langzeitarbeitslose zu 55 Prozent ab. Bei Deutschen mit einem hohen Bildungsstand liegt dieser Anteil bei 8 und bei 35 Prozent. Philipp Hübl ergänzt: „Auch die Anfälligkeit für populistische Parteien befindet sich bei Deutschen mit niedriger und mittlerer Bildung über dem Durchschnitt, bei Hochgebildeten darunter.“ Der Bildungsstand hängt jedoch nicht unmittelbar von den emotionalen Dispositionen ab. Daher ist es naheliegend, dass man mit der Erziehung ein progressives Emotionsprofil erworben oder als Nebeneffekt emotionale Selbstkontrolle erlernt hat. Noch wahrscheinlicher ist, dass man eingesehen hat, dass Fairness und Mitgefühl vernünftig und allgemein geboten sind, weil man sie auch von anderen für sich selbst erwartet. Philipp Hübl ist Philosoph und Autor des Bestsellers „Folge dem weißen Kaninchen … in die Welt der Philosophie“ (2012).

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Die Smartphones arbeiten im Akkord

Computer-Logik ist ansteckend. Immer mehr Leute tröten ihre Entweder-Oder-Thesen heraus. Kaum versucht man, das Gesagte oder Gepostete zu verstehen, kaum hat sich ein Hauch von Ahnung in einem geformt, wird man auch schon wieder unterbrochen. Rebekka Reinhard erläutert: „Denn die Smartphones arbeiten im Akkord, produzieren Aktion und Reaktion am laufenden Band. Breaking News strukturieren den Alltag, auch wenn Sie nicht am Newsdesk einer Zeitungsredaktion sitzen.“ Schon wieder hat irgendwer irgendwas gesagt! Die Unterbrechung kommt ganz automatisch. Was sagt Markus Söder, was sagen Spiegel Online und Anne Will? Echt oder Fake, war oder falsch? Wer mithalten will, muss denken: hart, schnell und emotional. Für die geduldige, kritische hinterfragende Auseinandersetzung mit Fakten hat man längst eine virtuelle Gedenkstätte eingerichtet. Philosophin Rebekka Reinhard war, bis zur Einstellung der Zeitschrift, stellvertretende Chefredakteurin des Magazins „Hohe Luft“.

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Die Entstehung des Lebens ist immer noch ungeklärt

Die Geschichte des Lebens war keine gleichmäßige Entwicklung. Sondern sie war charakterisiert durch lange Phasen, oft über Hunderte von Millionen Jahren, in denen wenig Neues geschah. Plötzlich entstanden dann durch „Sprünge“ in verhältnismäßig kurzer Zeit vollkommen neue Organisationsformen. Der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould und der Paläontologe Niles Eldredge sprachen angesichts dieser stark schwankenden Geschwindigkeiten auch von einem „punktierten Gleichgewicht“. Fabian Scheidler weiß: „Evolutionäre Sprünge zeichnen sich oft dadurch aus, dass zuvor getrennte Elemente zu neuen integrierten Einheiten verbunden werden, die vollkommen neue Eigenschaften aufweisen.“ Diese neuen Eigenschaften lassen sich nicht aus dem Verhalten der einzelnen Teile ableiten oder auf sie reduzieren. Sie tauchen erst auf der höheren Integrationsebene auf. Der Publizist Fabian Scheidler schreibt seit vielen Jahren über globale Gerechtigkeit.

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Insekten sind systemrelevant für Ökosysteme

In Deutschland ist die Biomasse von Fluginsekten innerhalb von drei Jahrzehnten um bis zu 75 Prozent zurückgegangen. Dirk Steffens und Fritz Habekuss wissen: „In der Folge des Insektenschwunds sterben auch die Vögel, weil viele sich von Insekten ernähren. Beispiel Nordamerika: Dort sind seit 1970 etwa drei Milliarden Vögel verschwunden. Den Verlust von einzelnen Vogel- oder Säugetierarten können Ökosysteme oft einigermaßen ausgleichen, doch Insekten sind systemrelevant.“ Das Problem ist bereits sehr real. In einigen Regionen Chinas müssen Landarbeiter Obstbäume mittlerweile per Hand bestäuben – was aber nicht nur am Insektensterben liegt. In ihrem Buch „Über Leben“ erzählen der Moderator der Dokumentationsreihe „Terra X“ Dirk Steffens und Fritz Habekuss, der als Redakteur bei der „ZEIT“ arbeitet, von der Vielfalt der Natur und der Schönheit der Erde.

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Am Ende des Kampfes gegen das Ressentiment steht die Selbsterweiterung

Cynthia Fleury untersucht in ihrem Buch „Hier liegt Bitterkeit begraben“ das Ressentiment, die Unzufriedenheit und Bitterkeit, die Demokratien zu zerreißen drohen. Die Autorin schreibt: „Man muss das Bittere begraben. Und darauf wächst etwas anderes. Kein Boden ist jemals für immer verflucht: eine bittere Fruchtbarkeit, die das künftige Verständnis begründet.“ Cynthia Fleury ist der Auffassung, dass es in der Fähigkeit, zu ihrem eigenen Ressentiment auf Distanz zu gehen oder nicht, zwischen den Menschen einen radikalen Unterschied gibt. Die Bekämpfung des Ressentiments lehrt die Notwendigkeit der Toleranz gegenüber Ungewissheit und Ungerechtigkeit. Am Ende dieser Auseinandersetzung steht das Prinzip der Selbsterweiterung. Die Philosophin und Psychoanalytikerin Cynthia Fleury ist unter anderem Professorin für Geisteswissenschaften und Gesundheit am Conservatoire National des Arts et Métiers in Paris.

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Das Netzwerkkapital spielt eine große Rolle

Heutzutage spielen die Internationalisierung und Entfaltung der Kompetenzen der Persönlichkeit über standardisierte, nationale Bildungsabschlüsse eine zunehmend wichtige Rolle. Andreas Reckwitz erklärt: „Das ökonomische Kapital von Einkommen und Vermögen will auf volatilen Arbeits-, Immobilien- und Finanzmärkten entwickelt werden. Eine bedeutsame Rolle nimmt die Entwicklung von sozialem Kapital ein.“ Die neue Akademikerklasse zeichnet sich durch eine besonders differenzierte Pflege von Netzwerkkapital aus. Sowohl von solchem, das man beruflich verwerten kann, als auch von solchem, das allgemeine Beratungsfunktion verspricht. Dabei geht es um die Themen Gesundheit, Recht und Bildung. Daneben gibt es ein Netzwerkkapital, das relevant für die Gestaltung der Freizeit ist. Als Beispiele nennt Andreas Reckwitz die Nutzung von Ferienhäusern, internationalen Wohnungstausch oder lokale Kaufempfehlungen. Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder.

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Der „europäische Geist“ erlebte eine Krise

War man um die Mitte des 17. Jahrhunderts durch die zermürbende Erfahrung des Krieges klüger geworden? ES kann jedenfalls kein Zufall sein, dass mehr oder weniger simultan europaweit Tendenzen zu beobachten sind, an allem, was mit überkommenen Machtstrukturen zu tun hat, Kritik zu üben. Jürgen Wertheimer weiß: „Das betrifft Regierungsformen wie Denkstile. England unter der republikanischen Diktatur Oliver Cromwells oder die Revolte der Niederlande gegen die spanische Hegemonie sind nur zwei Beispiele für die beginnende Korrosion traditioneller Herrschaftsgefüge.“ Weit deutlicher jedoch als im Bereich der Politik zeigen sich die Zeichen eines generellen Umbruchs im Bereich der Künste und Wissenschaften. Denn der „europäische Geist“ erlebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine massive Krise. Jürgen Wertheimer ist seit 1991 Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik in Tübingen.

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Nicht alle Leben sind gleich wertvoll

Gewaltlosigkeit ist eine ethische Frage im Kraftfeld der Gewalt. Am besten lässt sich Gewaltlosigkeit vielleicht als Widerstandspraxis beschreiben. Diese ist eben in dem Moment möglich, wenn nicht gar erforderlich, in dem die Ausübung von Gewalt am meisten gerechtfertigt und offensichtlich scheint. Judith Butler stellt fest: „So lässt sich Gewaltlosigkeit als Praxis verstehen, die nicht nur einem gewaltsamen Akt oder Prozess Einhalt gebietet, sondern selbst nachhaltiges – und möglicherweise durchaus aggressiv durchsetztes – Handeln erfordert.“ Judith Butlers Auffassung nach lässt sich also Gewaltlosigkeit nicht einfach als Abwesenheit von Gewalt oder als Enthaltung von Gewalt begreifen. Vielmehr muss man sie als anhaltendes Engagement, ja als Umlenkung von Aggression zum Zweck der Verteidigung der Ideale von Gleichheit und Freiheit verstehen. Judith Butler ist Maxine Elliot Professor für Komparatistik und kritische Theorie an der University of California, Berkeley.

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Paul Kirchhof kennt die Freiheitsrechte

Die Verfassung gewährleistet nicht Freiheit, sondern ein Freiheitsrecht, das definiert, begrenzt, auf die Freiheiten anderer und das Gemeinwohl abgestimmt ist. Paul Kirchhof betont: „Im Mittelpunkt des Rechtsstaates steht die Freiheit.“ Die Menschen wehren sich gegen Sklaverei, gegen willkürliche Verhaftung, gegen Entrechtung und Verachtung bestimmter Gruppe und Einzelpersonen. Im Kern weist das Freiheitsanliegen die Obrigkeit in Distanz und unterbindet deren Willkür durch Recht. Ist dieses Freiheitsziel erreicht, beginnt der Aufbau einer vorbereitenden Freiheitsordnung. Diese verhindert zukünftige Freiheitsverletzungen und fördert den Freiheitsberechtigten in der Freiheitswahrnehmung und der Mitgestaltung des Gemeinwesens. Der Gesetzgeber erlässt ein Bürgerliches Gesetzbuch, gibt damit der Eigentümer- und Berufsfreiheit die Möglichkeit verbindlichen Gestaltens. Dr. jur. Paul Kirchhof ist Seniorprofessor distinctus für Staats- und Steuerrecht an der Universität Heidelberg.

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Edmund Husserl erschafft die Phänomenologie

Fast unmittelbar nach Immanuel Kant versuchen Philosophen Denken und Wirklichkeit wieder zusammenzubringen. Sei es nun durch eine „Phänomenologie des Geistes“ wie bei Hegel oder durch eine „Philosophie des Willens“ wie bei Arthur Schopenhauer. Ger Groot weiß: „Am Ende dieses Jahrhunderts gibt der Mathematiker und Philosoph Edmund Husserl dem Denken Immanuel Kants eine bedeutende Wendung. Auch Husserl geht davon aus, dass die primäre Gegebenheit unserer Erkenntnis darin besteht, dass uns die Dinge erscheinen.“ Sie sind Phänomene – daher der Name der philosophischen Schule, die er ins Leben ruft: Phänomenologie. Auf Basis dieser Feststellung geht er, ebenso wie Immanuel Kant, auf die Möglichkeitsbedingungen der Phänomene zurück. Ger Groot lehrt Kulturphilosophie und philosophische Anthropologie an der Erasmus-Universität Rotterdam. Außerdem ist er Professor für Philosophie und Literatur an der Radboud Universität Nijmegen.

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Die Kunst schweißt die Menschen zusammen

Kunst schafft Symbole und verwandelt so menschliche Gruppen in Überlebensmaschinen. Sie schweißt die Menschen zusammen. Stefan Klein erklärt: „Kunst wurde demnach umso bedeutender, je mehr Personen zusammenlebten. Zu Schmuckstücken umgewandelte Muscheln etwa können Status und Individualität signalisieren.“ Wenn nämlich Menschen geistig dazu imstande sind, in einem Gegenstand ein Zeichen für etwas ganz anderes zu sehen, hören die bemalten Muscheln auf, nur Kalkschalen von Weichtieren zu sein. Sie sind Zeichen für das Zusammenleben geworden. Solange die Menschen nur sehr wenige waren und kaum Austausch mit anderen pflegten, benötigten sie keine solchen Symbole. Niemand legt im engsten Familienkreis ein Collier an. Stefan Klein zählt zu den erfolgreichsten Wissenschaftsautoren der deutschen Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg.

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Im Spiegel vervielfältigt sich die eigene Gestalt

Das Reich der Bilder, die Sinnenwelt, ist ein an den Rändern einer spezifischen Kraft – des rezeptiven Vermögens – errichtetes Reich. Emanuele Coccia erläutert: „Indem das Medium die materielose Form in sich empfängt, trennt es sie von ihrem gewohnten Substrat und ihrer Natur.“ In den Begriffen der Scholastik ist das Medium der Ort der Abstraktion, also der Abtrennung. Das Sinnliche ist die von ihrer natürlichen Existenz abgetrennte, abstrahierte Form. So existiert das eigene Abbild im Spiegel oder einer Fotografie wie losgelöst von der eigenen Person, in einer anderen Materie, an einem anderen Ort. Die Trennung ist die wesentliche Funktion des Ortes. Einer Form einen Ort zuzuweisen, bedeutet, sie von den anderen zu trennen. Sie von der Kontinuität und der Vermischung mit dem übrigen Körper abzulenken. Emanuele Coccia ist Professor für Philosophiegeschichte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris.

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Der Hass ist das Gegenteil der Liebe

Band 25 des Philosophicums Lech handelt von einem elementaren Gefühl: dem Hass. Negative Gefühle gibt es viele, aber nur dem Hass kann man scheinbar nichts Positives abgewinnen. Er ist der einzige Affekt, der generell als unzulässig erachtet wird. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Es geht nur noch darum, wie wir ihn eindämmen, neutralisieren, entschärfen, zurückdrängen und bekämpfen können.“ Anders als Wut und Zorn ist Hass in hohem Maße auf Verbalisierung und Aktionismus angewiesen. Dem Hass könnte man allenfalls entgehen, wenn man seine moralischen Überzeugungen immer wieder in Frage stellt. Konrad Paul Liessmann betont: „Den Hass zu neutralisieren wird nur gelingen, wenn uns klar wird, wie tief wir in dieses Gefühl gerade dann verstrickt sind, wenn wir uns frei davon wähnen.“

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Leonardo da Vincis Neugier war unstillbar

Im Frühjahr findet man den „Doldigen Milchstern“ häufig auf Wiesen, Ödland und selbst in Parks. Volker Reinhardt weiß: „Leonard da Vinci musste Mailand, wo er von 1482 bis 1499 lebte, also nicht einmal verlassen, um die attraktive Pflanze mit den oben schneeweißen, unten weißgrünen Blütenblättern in sein Notizbuch zu zeichnen.“ Bei einem Spaziergang in seinem Weinberg, einer verwilderten Gartenanlage oder in einem Zierwäldchen stieß er auch auf das „Gelbe Windröschen“. Dieses scheint auf dem gleichen Zeichenblatt zu beiden Seiten des Milchsterns zu wachsen. Auch die „Garten-Wolfsmilch“, die er unten rechts auf das Blatt zeichnete, konnte er bei dieser Gelegenheit pflücken. Ebenso die beiden anderen Wolfsmilcharten, von denen auf dem Blatt nur die oberen Blütenstände festgehalten sind. Volker Reinhardt ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg. Er gehört international zu den führenden Italien-Historikern.

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Zarathustra singt das Mitternachtslied

Friedrich Nietzsches „Mitternachtslied“ aus „Also sprach Zarathustra“ beginnt mit einer eindringlichen Anrufung, die ein Rätsel darstellt: Weder weiß man, wer genau hier spricht, noch zu wem eigentlich gesprochen wird. „Oh Mensch! Gieb Acht!“ Nach dem Kapitel „Das andere Tanzlied“ hebt dieser Gesang an – unmittelbar, ohne Einleitung oder Vorwarnung, ohne epische Szenerie oder Erläuterung. Konrad Paul Liessmann fragt: „Ist es Zarathustra selbst, der dieses Lied für sich intoniert? Ist es das allegorisierte Leben, das Zarathustra diese Worte als größtes Geheimnis ins Ohr flüstert? Sind es die Schläge der Mitternachtsglocke, die diese Verse mit sich hinaustragen in die Welt?“ Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

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Die Moral wird zur Komplizin des Bösen

Die begründungsabstinente Unbekümmertheit der Moral in der Gegenwart manifestiert sich an der Identifizierung sexistischer oder rassistischer Signale. Über deren verwerflichen Charakter herrscht große Einmütigkeit. Bei der Einmütigkeit handelt es sich jedoch nicht um den zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Alexander Somek fragt: „Ist eine Darstellung dann sexistisch, wenn sie Frauen als Sexualobjekte zeigt, obwohl doch das wechselseitige Sich-Zum-Objekt-Machen zur Sexualität gehört?“ Es wäre doch wohl verkehrt anzunehmen, dass durch die Affirmation des Umstands, dass heterosexuelle Männer auf Frauen stehen, die Unterordnung der Frau unter den Mann ratifiziert wird. Wäre die „Heteronormativität“ der Skandal, dann müsste auch gezeigt werden, in welchem Zusammenhang sie mit dem männlichen Sexismus steht. Alexander Somek ist seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie und juristische Methodenlehre an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien.

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In Deutschland herrscht eine geringe Chancengleichheit

Die Ungleichheit bei den Markteinkommen in Europa zählt hierzulande zu den höchsten und ist fast so hoch wie in den USA. Das reflektiert eine geringe Chancengleichheit und damit auch eine niedrige soziale Mobilität. Marcel Fratzscher weiß: „Das liegt darin begründet, dass das Einkommen der Spitzenverdiener überwiegend aus Unternehmensbesitz resultiert. Fast 80 Prozent dieser Unternehmen befinden sich in der Hand von Familien.“ Diese können ihren Besitz dank großzügiger Ausnahmeregelungen der Erbschaftssteuer fast steuerfrei an die nächste Generation weitergeben. Zum anderen sind die zu geringe Qualität und die fehlende Inklusion innerhalb des Bildungssystems eine Ursache dafür. In Deutschland hängen die Bildungs- und Berufschancen nur sehr begrenzt von den Talenten und Fähigkeiten der jungen Menschen, sondern viel mehr von Einkommen und Bildungsgrad ihrer Eltern ab. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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In Krisen sind Menschen emotional verunsichert

Vielleicht basieren viele kleine und große Krisen auf völlig falschen Perspektiven. Christian Uhle fügt hinzu: „Vielleicht erkennen Menschen in solchen Situationen keine tiefere Wahrheit, sondern sind emotional verunsichert. Vielleicht ist das Leben durch und durch sinnvoll, nur manchmal sehen wir das nicht und verlieren unser Gefühl für den Sinn.“ Fakt ist, dass die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens mit Empfindungen von Sinnlosigkeit umgehen müssen. Wie kann ein Mensch solche Erfahrungen besser verstehen? Ebenso wie die Liebe zu den eigenen Eltern ganz anders ist als die stürmische Verliebtheit am Anfang einer romantischen Beziehung, so hat auch das Gefühl der Sinnlosigkeit tausend Gesichter. Wie die Liebe lässt es sich nicht präzise beschreiben, sondern nur umkreisen. Das Anliegen des Philosophen Christian Uhle ist es, Philosophie in das persönliche Leben einzubinden.

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Echtes Vermögen sieht man nicht

Geld steckt voller Ironie, eine wichtige lautet: Vermögen ist, was man nicht sieht. Morgan Housel weiß: „Wer einen Ferrari herumfahren sieht, hält den Besitzer meist automatisch für reich – auch wenn er ihn kaum beachtet.“ Doch nachdem Morgan Housel einige der Fahrer näher kennengelernt hatte, merkte er, dass sie beileibe nicht alle wohlhabend waren. Viele hatten nur mäßigen Erfolg, steckten dafür aber einen Großteil ihres Einkommens in ihr Auto. Jemand, der mit einem 100.000-Dollar-Auto herumfährt, mag reich sein. Aber im Grunde weiß man nur, dass er 100.000 Dollar weniger besitzt als vor dem Kauf des Autos – oder 100.000 Dollar mehr Schulden hat. Das ist alles, was man über ihn weiß. Morgan Housel ist Partner bei der Risikokapitalgesellschaft The Collaborative Fund.

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Die Forschung konstruiert ein Bild der Welt

Das explizite Ziel wissenschaftlicher Forschung ist nicht, korrekte quantitative Vorhersagen zu machen, sondern zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Was bedeutet das? Carlo Rovelli antwortet: „Es bedeutet, ein Bild der Welt zu konstruieren. Das heißt eine konzeptuelle Struktur des Denkens über die Welt zu entwickeln, die effizient und kompatibel mit dem ist, was wir über sie wissen.“ Die Naturwissenschaften existieren, weil die Menschheit sehr wenig weiß und unzählige falsche Annahmen hegt. Wissenschaft wird aus dem geboren, was die Menschen nicht wissen und dem Bezweifeln dessen, was sie zu wissen meinen. Diese Meinung hält aber einer rationalen Überprüfung oder einer kritischen Analyse nicht stand. Seit dem Jahr 2000 ist Carlo Rovelli Professor für Physik an der Universität Marseille.

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Vaclav Smil weiß wie die Welt wirklich funktioniert

Vaclav Smil vertritt in seinem neuen Buch „Wie die Welt wirklich funktioniert“, dass bei den meisten Menschen ein hochgradiges Unverständnis für die grundlegende Funktionsweise der modernen Welt besteht. Zwei wichtige Ursachen für dieses auf Ignoranz zustrebende Verständnisdefizit heißen Verstädterung und Mechanisierung. Die meisten heutigen Stadtbewohner haben jeden persönlichen Bezug nicht nur zur Erzeugung von Lebensmitteln verloren, sondern auch zu der Art und Weise, wie man Maschinen und Geräte baut. Es gibt einen zweiten Hauptgrund für das schwache und weiter nachlassende Verständnis, mit denen man Energie und Baumaterialien erzeugt. Sie haben das Image bekommen, unmodern, wenn nicht sogar obsolet geworden zu sein. Jedenfalls ausgesprochen uncool im Vergleich zur Welt der Medien, Informationen, Daten und Bildern. Vaclav Smil ist Professor Emeritus für Umweltwissenschaften an der University of Manitoba. Er hat unter anderem das Grundlagenwerk „Energy and Civilization“ geschrieben.

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Algorithmen benötigen eine stabile Welt

Beim Online-Dating hat zwar jede Person ein Profil, aber das Profil ist nicht die Person. Gerd Gigerenzer weiß: „Die Menschen neigen dazu, ihre Profile zu schönen. Und selbst wenn sie gewissenhaft zu Werke gehen, wird das Profil nicht der Vielschichtigkeit eines Menschen gerecht.“ Allgemeiner kommt diese Erkenntnis im „Prinzip der stabilen Welt“ zum Ausdruck. Komplexe Algorithmen arbeiten am zuverlässigsten in wohldefinierten, stabilen Situationen, in denen große Datenmengen zur Verfügung stehen. Die menschliche Intelligenz dagegen hat sich entwickelt, um Ungewissheit zu bewältigen, unabhängig davon, ob Big oder Small Data vorliegen. Die Regeln von Schach oder Go sind wohldefiniert und insofern stabil, als sie heute und morgen gelten. Gerd Gigerenzer ist ein weltweit renommierter Psychologe. Das Gottlieb Duttweiler Institut hat Gigerenzer als einen der hundert einflussreichsten Denker der Welt bezeichnet.

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Der Mensch denkt in Begriffen

Es ist berechtigt und sogar zielführend, vom menschlichen Denken auszugehen und sich von dieser relativ sicheren Position aus den Leistungen von Tieren zu nähern. Schließlich wissen Mensch sowohl aus der Ich-Perspektive als auch durch die Du-Perspektive der gegenseitigen sprachlichen Vermittlung, wie sie bestimmte Entscheidungen treffen. Und sie erkennen dadurch die Motive ihres Handelns, welche Ziele sie verfolgen und wie sich dabei fühlen. Ludwig Huber erläutert: „Dieser Erlebens-Aspekt ist von zentraler Bedeutung. Darüber hinaus nehmen wir als Wissenschaftler auch noch die Perspektive der Person ein. So machen wir menschliches Denken und Handeln zu einem objektiven Untersuchungsgegenstand.“ Ein zentraler Aspekt menschlichen Denkens ist die Begriffsbildung. Ludwig Huber ist Professor und Leiter des interdisziplinären Messerli Forschungsinstituts für Mensch-Tier-Beziehungen an der Veterinärmedizinischen Universität Wien.

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Geschmack ist die weibliche Form des Genius

Geschmack bezeichnete F. Scott Fitzgerald – ganz Gentleman der alten Schule – als die weibliche Form des Genius. In diesem Sinne wäre die Boutiquisierung der Kultur – folgte man dem Machismo Fitzgeralds – auch ein Erfolg der weiblichen Emanzipation. Ulf Poschardt erklärt: „Die Kultur wird metrosexuell. Vielleicht überlebt das Buch am Ende nur am Coffeetable und das Tanztheater nur in Modeschauen.“ Die Organisation und Reproduktion von Lebensstilen verlangen als Mündigkeitsanstrengung vor allem „kulturelles Kapital“, wie das Pierre Bourdieu vermutet. Kurz vor dem Eintritt in die Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts hat der Postmaterialismus die Mündigwerdung reidealisiert und dabei auch die Rollenbilder verschoben. Die Klimabewegung Fridays for Future trat 2019 als eine extrem weibliche Protestbewegung hervor. Seit 2016 ist Ulf Poschardt Chefredakteur der „Welt-Gruppe“ (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt TV).

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