Die moderne Gesellschaft scheint sich einig, dass Narzissmus zu verurteilen ist: als ein Macke, wenn nicht als ein Geistesstörung. Aber nicht jeder, der stört, ist auch gestört. Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen erklärt: „Das Netz ist so ziemlich das größte Instrument zur Förderung von Narzissmus, das je gebaut wurde.“ Lange Zeit war narzisstisches Verhalten ein Privileg der Reichen und Einflussreichen, zu deren Jobprofil es gehörte, auf dicke Hose zu machen. Nur sie konnten sich öffentliches Gepolter erlauben, um ihr Ego aufzuplustern, nur sie fanden damit Gehör. Auf Facebook, Instagram, Pinterest ruft der Narzisst der Welt zu: „Schaut her! Hier bin ich! Was haltet ihr davon? Wie findet ihr mich? Antwortet mir!“ Die Selfiestange heißt im englischen Sprachraum nicht umsonst „Narcistick“.
Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste Droge
Das Phänomen Selfie passt zum Mitmachfernsehen, zu Quizshows, Castingshows, Spielshows und Gastroshows. Es wird nicht mehr lange dauern, dann gibt es mehr Menschen, die schon mal im Fernsehen waren, als Menschen, die immer nur davorsaßen. Der Psychologe Martin Altmeyer schreibt in seinem Buch „Auf der Suche nach Resonanz“: „Im Auge der Kamera, unter den Scheinwerfern der Studios, in der Aufmerksamkeit der Zuschauer wird aus dem sich präsentierenden Nobody ein wahrgenommener Jemand.“
Martin Altmeyer bezieht sich auf die berühmten Thesen, die der Stadtplaner Georg Franck 1998 in seinem Buch „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ dargelegt hat: „Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen. Ihr Bezug sticht jedes andere Einkommen aus. Darum steht der Ruhm über der Macht, darum verblasst der Reichtum neben der Prominenz.“ Nichts ist so modern wie die Kritik an der Moderne. Da wird der Anstieg narzisstischen Verhaltens dann auch damit erklärt, dass der Neoliberalismus lauter Ichlinge heranziehe.
Identität und Sinn werden den Menschen nicht mehr in die Wiege gelegt
In der Ellenbogengesellschaft setzen sich die Menschen in einem immer gnadenloseren Konkurrenzkampf in Szene und sind zur Selbstoptimierung gezwungen. Die Logik: In der Ich-AG lauert die Ich-Ich-Ich-AG, in der Selbstverantwortung der Egowahn. Der Frankfurter Soziologe und Psychologe Martin Dornes hält von solchen Kurzschlussanalysen nichts. Er beschreibt einen Strukturwandel der Psyche, der mit Neoliberalismus wenig und mit wachsenden Freiheiten viel zu tun hat.
Martin Dornes erklärt: „Die postheroische Persönlichkeit löst die autoritäre Persönlichkeit ab, weil der Erziehungsstil partnerschaftlicher geworden ist und tradierte Ordnungssystem ihre Macht verloren haben: Familie, Religion, soziale Klasse. Postheroisch ist die Persönlichkeit, weil sie ihre Bedürfnisse nicht mehr heldenhaft unterdrückt, weil sie ihre innersten Wünsche nicht länger gesellschaftlichen Normen unterordnet.“ Im Gegenzug muss die Persönlichkeit damit leben, dass ihr Identität und Sinn nicht in die Wiege gelegt werden. Quelle: Der Spiegel
Von Hans Klumbies