Die Muße befreit den Menschen von allen Zwängen

Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa definiert die Muße als einen Zustand, der von allen Zwecken entlastet ist – außer sich selbst. Er ergänzt: „Das kann eine Tätigkeitsform sein, bei der man mit sich selbst vollkommen im Reinen ist – nicht gehetzt, aber auch nicht gelangweilt, herausgefordert, aber nicht überfordert.“ Es ist also ein Zustand, in dem ein Mensch etwas tut, das genau den eigenen Fähigkeiten entspricht. Wer sich dem Müßiggang hingibt, verspürt also keinen Anstoß, gerade irgendetwas tun zu müssen. Doch die wenigsten Menschen sind in der heutigen Zeit noch dazu in der Lage. Hartmut Rosa erklärt: „Dieser Impuls, in unserer freien Zeit schnell noch etwas zu erledigen oder mitnehmen zu müssen, ist inzwischen tief in uns verankert und lässt sich vom Denken nicht mehr steuern.“

Die Idee der Gleichheit aller Menschen verdrängte die Muße aus der Welt

Das war nicht immer so. In der Antike galt ein Leben frei von Zwecken und Zwängen als Ideal. Eberhard Straub schreibt in seinem Buch über das Nichtstun folgendes: „Eines gebildeten Menschen würdig war nur, Landwirtschaft zu treiben, ererbte Güter zu verwalten und von deren Erträgen behaglich zu leben.“ Um den Rest mussten sich die Sklaven kümmern. Auch im Mittelalter galt die Arbeit immer noch nicht als das große anzustrebende Ziel. Ganz im Gegenteil: Habgier, Geiz und Gewinnstreben galten in der damaligen Zeit als Laster.

Die Muße verlor ihren Platz in der Welt, als die Idee von der Gleichheit aller Menschen aufkam. Der französische Theoretiker Alexis de Tocqueville beschrieb schon Anfang des 19. Jahrhunderts Amerika als ein Land der allgemeinen Geschäftigkeit, die durch die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs hervorgerufen wird. Daraus ergibt sich für die Menschen aber eine Unfreiheit, die mit ständiger Zeitnot einhergeht. Als frei dagegen empfand er das Leben des Adels im Ancien Régime, die ihr Geld nicht im Schweiße ihres Angesichts verdienen mussten.

Muße erfordert eine gewisse Charakterstärke

Die Epoche der Industrialisierung bescherte der Muße das endgültige Todesurteil. Der Wirtschaftshistoriker Hans-Joachim Voth schätzt, dass auf dem Höhepunkt der Industriellen Revolution um 1850, viele Engländer bis zu 3.500 Stunden im Jahr arbeiteten. Das bedeutete: sechs Tage pro Woche, zwölf bis vierzehn Stunden am Tag. Niemals wurde auf der Welt so viel gearbeitet wie damals. Die ruhelose Geschäftigkeit entwickelte sich zur Norm für die gesamte Gesellschaft. Ruhephasen dienten nur noch der Regeneration der Arbeitskraft.

In der heutigen Zeit erfordert es eine gewisse Stärke des Charakters, um sich dem Müßiggang hinzugeben. Der Zeitforscher Karlheinz Geißler erläutert: „Man muss ziemlich viel mit sich anfangen können, wenn man aus dem Alltag des Berufslebens aussteigt. Man muss sich selbst genügen. Wer zur selbstbestimmten Muße finden will, der muss erst durch die Langeweile hindurch.“ Laut Hartmud Rosa ist Muße auch eine bestimmte Form der Weltbeziehung, eine innere Haltung des Menschen zu seiner jeweiligen Tätigkeit.

Von Hans Klumbies