Der Multikulturalismus degradiert Kultur zur Staffage

Für Bernhard Giesen, Professor für Makrosoziologie an der Universität Konstanz, sind Religion und Kultur nicht nur hübsche Traditionen. Sie bestimmen seiner Meinung nach das Bild vom guten Leben. Die meisten Menschen wünschen sich Integration, streiten sich aber darüber, wie dies funktionieren soll. In der Regel werden drei Strategien vertreten. Bernhard Giesen zählt sie auf: „Assimilation, Säkularisierung und Multikulturalismus.“ Die Sympathien sind dabei klar verteilt. Es gibt Befürworter der These, dass die Assimilation an eine deutsche Leitkultur mit dem Toleranzgebot und der Idee der Glaubensfreiheit, ja der Menschlichkeit im Ganzen, nicht zu vereinbaren ist. Als Alternative zur Assimilation schlagen manche Menschen vor, die private und öffentliche Religionsausübung strikt zu trennen. Bei diesem so genannten Säkularisierungsmodell ist nur ganz schwer zu entscheiden, wo sich denn die Grenze zwischen privaten und öffentlichen Räumen befinden soll.

Der Multikulturalismus besitzt keine verbindliche Leitkultur

Das Modell des Multikulturalismus antwortet laut Bernhard Giesen auf diese Schwierigkeit, indem es darauf verzichtet, religiös-kulturelle Praktiken rechtlich zu regulieren. Bernhard Giesen erklärt: „Es erlaubt nicht nur das Nebeneinander von verschiedenen religiösen Gemeinschaften innerhalb des staatlichen Territoriums, sondern – anders als das Säkularisierungsmodell – auch die Darstellung und Aufführung der Religion in der Öffentlichkeit.“

Dabei wird die Bildung eines Ghettos nicht ausgeschlossen, die Entstehung von Diasporalagen ist möglich. Jeder Mensch kann sein Kulturmodell wählen und ausleben. Die Idee einer verbindlichen Leitkultur wird hier gemäß Bernhard Diesen aufgegeben. Er sagt: „Die Vertreter dieses Modells setzen auf die langfristige und zwanglose Eingewöhnung der andersgläubigen Migranten.“ Der Multikulturalismus verlangt von den Einheimischen und den Zugereisten scheinbar nur Geduld, Toleranz und die Bereitschaft zum Kompromiss.

Für Bildungsbürger ist die Religion der Aberglauben der Unaufgeklärten

Für Bernhard Giesen scheint die Idylle eines solchen multikulturellen Miteinanders allerdings nur aus sicherer Distanz des Bildungsbürgertums der Vorstädte ein erfolgreiches Programm der Integration zu sein. Bernhard Giesen schreibt: „In Wahrheit nämlich kommt auch das Multikulturalismus-Modell nicht ohne eine Grenze aus: Sie verläuft zwischen denjenigen, die aus der Distanz Multikulturalismus fordern, und denjenigen, die in die Auseinandersetzungen vor Ort und Stelle verstrickt sind.“

Noch gewichtiger als die Verlagerung der Kosten des Zusammenlebens auf jene, die nicht die sichere Distanz einhalten können, ist laut Bernhard Giesen freilich ein anderer Einwand gegen das Multikulturalismusmodell: „Es verharmlost die Bedeutung von Religion für Gemeinschaftlichkeit und die Bedeutung von Religion als Grundlage von Identität. Das religiöse Bekenntnis wird als Rahmen des Weltverständnisses erst gar nicht ernst genommen, Kultur wird zur harmlosen und auswechselbaren Staffage degradiert.“ Gemäß Bernhard Giesen ist für viele Bildungsbürger der deutschen Vorstädte die Religion immer noch ein Aberglaube der Unaufgeklärten.

Von Hans Klumbies