Michael Wolffsohn fordert den Mut zum Denken

Das neue Buch „Tacheles“ von Michael Wolffsohn ist nichts für Fachidioten oder eindimensionale Menschen. Der Autor redet nicht gern um den „heißen Brei“ herum. Sein Credo lautet: Erst denken, dadurch erkennen. Dann das Gedachte benennen und sich auch dazu bekennen. Somit Tacheles reden und schreiben. Auch wenn es nicht allen gefällt. Michael Wolffsohn fordert Mut zum Denken und Mut zum Aussprechen. Nicht taktisch denken, sondern faktisch lautet seine Devise. Er steht der Wahrheit unerbittlich zur Seite und räumt mit Klischees, Legenden und Lebenslügen in den politischen und historischen Debatten auf. Michael Wolffsohn kritisiert pointiert den aktuellen Antisemitismus in Deutschland. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

Michael Wolffsohn verfasst einen Nachruf auf die SPD

Einer der Essays in „Tacheles“ handelt von Friedrich II. Dieser war ein großer Geist, denn die Geistesschärfe und Bildung des Preußenkönigs war beeindruckend. Wer seine Briefe an Voltaire liest, genießt ein gedankliches und sprachliches Feuerwerk. Und bei der Lektüre seines Politischen Testaments fragt sich Michael Wolffsohn geradezu verzweifelt: „Welcher Schriftsteller, politische Publizist oder Politiker unserer Zeit erreicht auch nur annähernd dieses Niveau, zumal in allen drei Bereichen?“

Im Kapitel „Mission erfüllt – ein Nachruf auf die SPD“ vertritt Michael Wolffsohn die These, dass die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ihren historischen Auftrag erfüllt hat. Deshalb stirbt sie ab. Sozialdemokratismus, verstanden als verwirklichter und sich ständig weiterentwickelnder Wohlfahrtsstaat, ist nämlich in Deutschland sowie im politisch westlichen Europa gelebter Alltag. Dieser Grundsatz gehört inzwischen zur unumstrittenen Basis aller Parteien. Die Menschheit verdankt der Sozialdemokratie unendlich viel Menschlichkeit. Dennoch gilt: Parteien kommen, und Parteien verschwinden.

Der fremde anonyme Tod ist allgegenwärtig

In einem weiteren Essay begibt sich der Autor auf die Suche nach „dem“ Judenbild. Denn Fremd- und Selbstbilder entsprechen selten der Wirklichkeit. Das betrifft auch die Wirklichkeit von Juden, Judentum und Israel. Zerr- und Idealbilder von dem, was jüdisch sei, gibt es zuhauf. Die Zerrbilder sind so judenverachtend wie eh und je, die heutigen Idealbilder aber enttäuschen, weil der Realzustand nie dem Ideal gleichkommen kann. Und durch Enttäuschung wird Hass provoziert. Das einzig richtige Bild eines Menschen gibt es nicht, und noch weniger gibt es dies von Kollektiven.

Zu den fundamentalen und letzten Dingen zählt Michael Wolffsohn unweigerlich den Tod. Dieser ist keineswegs ein Tabu in der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Der anonyme und fremde Tod ist sogar ein Dauerthema in Kultur und Literatur, Natur und Geschichte. Der fremde, anonyme Tod ist allgegenwärtig. Der Tod wird wahrlich nicht verdrängt. Nur handelt es sich dabei stets um den Tod des anderen. Der andere ist gestorben, das eigene Leben geht weiter. Wie schön, wie beruhigend. Selbst beim Tod einem nahestehender Menschen, so Elias Canetti fühlt man trotz allem Schmerz eine Art von Erleichterung: „Gottlob, ich nicht, noch nicht.“

Tacheles
Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik
Michael Wolffsohn
Verlag: Herder
Gebundene Ausgabe: 319 Seiten, Auflage: 2020
ISBN: 978-3-451-38603-9, 26,00 Euro

Von Hans Klumbies