Die Deutschen wollten keine Revolution

Eine lange beliebte These ist für Michael Wolffsohn ebenso unsinnig wie letztlich unmenschlich. Nämlich dass die Weimarer Republik nicht zuletzt daran gescheitert ist, dass Verwaltungs- und Lehrpersonal nicht ausgetauscht zu haben. Die Revolution ist nicht zu Ende geführt worden, lautet ein weiterer Vorwurf. Schöne Grüße von der bolschewistischen Revolution. Genau die wollten die meisten Deutschen eben nich. Auch die Nationalsozialisten haben ab 1933 gezeigt, wie man Personal auswechselt. Legal durch Unrechtsgesetze, aber eben legal ebenso wie liquidatorisch. Wer kann das ernsthaft wollen? Aus eben diesem Grund sind Millionen von Mitmacher und Mitläufer weder nach 1945 noch nach 1989/90 „ausgetauscht“ worden. Prof. Dr. Michael Wolffsohn war von 1981 bis 2012 Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München.

Die NS-Geschichte muss man nicht umschreiben

Ein weiterer Vorwurf lautet, dass die NS-Geschichte in der Bundesrepublik bis heute ungenügend aufgearbeitet worden ist. Politisch, juristisch, kulturell, materiell und ökonomisch. Diese Aussage bezieht sich nicht zuletzt auf Bundesbehörden. Zum Beispiel auf die Bundesministerien für Justiz, Finanzen oder Wirtschaft, den BND, Verfassungsschutz und so weiter. Das wird allerdings seit einigen Jahren nach- und aufgeholt. Für Michael Wolffsohn ist jeder ein Schelm, der das Modisches, Opportunistisches oder eine Variante des Mitläufers vermutet.

Denn Michael Wolffsohn weiß: „Die Intensität bundesdeutscher NS-Aufarbeitung sucht welt- und wissenschaftshistorisch ihresgleichen.“ Wirklich Neues über die NS-Zeit dürfte man wohl kaum mehr entdecken. Die NS-Geschichte muss man nicht umschreiben, obwohl jeden zweiten Tag hierüber eine neue Studie erscheint. In der Regel galt nach normativen und politischen Regimewechseln auf der kollektiven Makroebene folgender Satz: „Was war, ist, wenn von Nachfahren nacherzählt, unwahr. Es ist anders gewesen. Es war und ist nicht mehr, und nach dem Schluss ist alles Anfang. Deshalb: vergeben und vergessen.“

Die Vergangenheit überwältigt die Lebenden

Klassisch und politisch zum Modell des Vergessens wurde die „Amnestie“ (= vergessen) im antiken Athen um 400 vor unserer Zeitrechnung. Klassisch, zeitlos und literarisch ist der Schluss der „Orestie“-Trilogie des Aischylos. Orest, Sohn des Agamemnon und der Klytaimnestra, wurde als Mörder angeklagt. Ja, er hatte den Mörder seines Vaters, den Geliebten seiner Mutter, Aigisthos, ermordet. Die Richter entschieden: Stimmengleichheit zwischen pro und contra Orest. Die Göttin Athena entscheidet sich für ihn: Freispruch.

Entsetzen beim Chor, „Volkes Stimme“. Antithese. Am Ende verordnete Versöhnung. Unbefriedigend? War Aischylos dümmer oder unmoralischer als die Menschen, die in der Gegenwart leben? Nie wurde, nie wird Vergangenheit bewältigt. Michael Wolffsohn stellt fest: „Sie überwältigt uns. Altertum, Gegenwart, Zukunft. Gut? Nein.“ Was ist die Alternative? Der großartige Nelson Mandela handelte auch nicht anders und auch die Deutschen nach der Wiedervereinigung nicht. Erich Honecker und Erich Mielke starben eines natürlichen Todes. Quelle: „Tacheles“ von Michael Wolffsohn

Von Hans Klumbies