Die Leistungsgesellschaft ist ein Tyrann

In seinem neuen Buch „Vom Ende des Gemeinwohls“ vertritt Michael J. Sandel die These, dass die Demokratien auf dem Prüfstand stehen und dass sich aktuell eine populistische Revolte ereignet. Als Beispiele nennt der Autor die Wahl Donald Trumps, den Brexit und den Erfolg der AfD. Das sind die wütenden Antworten auf die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft. Michael J. Sandel fordert die großen politischen Parteien auf, sich zu verändern und die Bürger ernst zu nehmen. Deren Protest richtet sich nicht nur gegen Einwanderung, Outsourcing und sinkende Löhne. Sie wehren sich gegen die Tyrannei der Leistungsgesellschaft, und diese Klage ist laut Michael J. Sandel berechtigt. Michael J. Sandel ist ein politischer Philosoph, der seit 1980 in Harvard lehrt. Er zählt zu den weltweit populärsten Moralphilosophen.

Die Solidarität ist verloren gegangen

Denn das Versprechen der Politik, harte Arbeit führe zum Erfolg, wurde nicht eingelöst. Stattdessen sind die reichen Gesellschaften des Westens gespalten in Gewinner und Verlierer, die keine Solidarität kennen. Die Hybris der Gewinner und die Demütigung der Verlierer befeuern den populistischen Protest. Michael J. Sandel fordert daher eine Politik des Gemeinwohls. Diese sollte die Gerechtigkeit und Wertschätzung als Grundlagen einer modernen Gesellschaft anerkennen.

Es ist ein Fehler, in populistischen Protesten ausschließlich Engstirnigkeit zu sehen oder sie lediglich als ökonomische Vorwürfe zu verstehen. Die etablierten Parteien sind taub für den Unmut der Menschen, die glauben, von der Wirtschaft und der Kultur fallen gelassen worden zu sein. Es geht hier nicht allein um Löhne oder Arbeitsplätze, sondern auch um gesellschaftliche Wertschätzung. Von unten gesehen ist die Überheblichkeit der Eliten kränkend. Niemand mag es, von oben herab betrachtet zu werden. Doch der meritokratische Glaube, bei dem allein die Leistung zählt, fügt der Kränkung eine Beleidigung hinzu.

Eine Demokratie lebt von sozialen Bindungen

Michael J. Sandel erläutert: „Barrieren abzubauen ist gut. Niemand sollte durch Armut oder Vorurteile aufgehalten werden.“ Doch eine gute Gesellschaft sollte nicht allein auf dem Versprechen einer Fluchtmöglichkeit beruhen. Denn wenn man sich nur oder vorwiegend am Aufstieg orientiert, trägt das wenig dazu bei, die sozialen Bindungen und zivilgesellschaftliche Verbundenheit zu pflegen, die eine Demokratie erfordert. Viele Menschen haben inzwischen die Fähigkeit verloren, gemeinsam über weitreichende öffentliche Fragen nachzudenken oder einander auch nur zuzuhören.

Gemeinwohl ist aber nur zu erreichen, wenn man zusammen mit seinen Mitbürgern über die Zwecke und Ziele nachdenkt, die einer politischen Gemeinschaft würdig sind. Deshalb kann die Demokratie gegenüber dem Charakter des Gemeinschaftslebens nicht gleichgültig sein. Dafür ist für Michael J. Sandel keine vollkommene Gleichheit notwendig. Erforderlich ist allerdings, dass Bürger aus unterschiedlichen Lebensbereichen in gemeinsamen Räumen und an öffentlichen Orten zusammenkommen. Denn so lernt man zu verhandeln und Differenzen auszuhalten. Und nur so schaffen es die Menschen, sich um das Gemeinwohl zu kümmern.

Vom Ende des Gemeinwohls
Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt
Michael J. Sandel
Verlag: S. Fischer
Gebundene Ausgabe: 441 Seiten, 3. Auflage: 2020
ISBN: 978-3-19-390000-2, 25,00 Euro

Von Hans Klumbies