Max Frisch hält die Höflichkeit für eine Gabe der Weisen

Wenn ein Mensch zuweilen die Geduld verliert, seine Meinung unverfroren äußert und dabei bemerkt, dass der andere zusammensackt, beruft er sich mit Vorliebe darauf, dass er halt ehrlich ist. Und in der Folgezeit muss der Angesprochene überlegen, wie er mit den Ohrfeigen umgeht, die ihm die Tugend versetzt hat. Der Mensch, der hier die Wahrheit unverblümt ausgesprochen hat, hat das Problem, dass er dem anderen mit seiner Ansicht nicht helfen will. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch erklärt: „Der Wahrhaftige, der nicht höflich sein kann oder will, darf sich jedenfalls nicht wundern, wenn die menschliche Gesellschaft ihn ausschließt.“ Seiner Meinung nach darf sich so eine Person nicht brüsten und eine Gloriole tragen, die ihr nicht zukommt, denn sie übt eine Wahrhaftigkeit, die stets auf Kosten der anderen geht.

Höflichkeit als Tat des lebendigen Gelingens

Die Höflichkeit offenbart sich laut Max Frisch als eine Gabe der Weisen. Er schreibt: „Ohne das Höfliche nämlich, die nicht im Gegensatz zum Wahrhaftigen steht, sondern eine liebevolle Form für das Wahrhaftige ist, können wir nicht wahrhaftig sein und zugleich in menschlicher Gesellschaft leben, die hinwiederum allein auf der Wahrhaftigkeit bestehen kann – also auf der Höflichkeit.“ Die Höflichkeit ist seiner Meinung nicht eine Summe von Regeln, die man drillt, sondern eine innere Haltung, eine Bereitschaft, die sich von Fall zu Fall bewähren muss.

Für Max Frisch scheint es von größter Bedeutung zu sein, dass sich jemand vorstellen kann, wie sich ein Wort oder ein Handlung für den anderen anfühlt. Viele Menschen erinnern sich allerdings noch, worin das Höfliche besteht, wenn es einmal nicht als reine Geste vorkommt, sondern als Tat des lebendigen Gelingens. Max Frisch erklärt: „Man begnügt sich nicht damit, dass man dem anderen einfach seine Meinung sagt; man bemüht sich zugleich um ein Maß, damit sie den anderen nicht umwirft, sondern ihm hilft; wohl hält man ihm die Wahrheit hin, aber so, dass er hineinschlüpfen kann.

Der unvereinbare Gegensatz zwischen Höflichkeit und Innerlichkeit

Der Weise, der wirklich Höfliche, ist für Max Frisch immer auch ein Liebender. Er schreibt: „Er liebt den Menschen, den er erkennen will, damit er ihn rette, und nicht seine Erkenntnis als solche.“ Der Weise wendet sich nicht an die unendlichen Weiten des Weltalls, wenn er spricht, sondern an die Menschen. Dabei denkt Max Frisch an die chinesischen Meister, die sagten: „Nicht der Kluge, nur der Weise hilft.“

Eine Ausnahme bei der Höflichkeit bildet der Künstler. Max Frisch erklärt: „Dass ein Mensch, der innerlich ist, nicht höflich sein kann oder darf; das Innerliche und das Höfliche als unvereinbare Gegensätze; das Unbändige als Zeichen eines echten Menschen.“ Der Künstler ist der Außenseiter, nicht darum, weil er eine andere menschliche Gesellschaft anstrebt, sondern einfach darum, weil ihn die Gesellschaft nichts angeht, und zwar auf gar keinen Fall, so dass er sie auch nicht verändern muss.

Von Hans Klumbies