Gehorsam ist ein Reizwort der deutschen Geschichte

Martin Wagner verfolgt in seinem Buch „Die Deutschen und der Gehorsam“ die Wandlungen des Gehorsamsbegriffs von der Aufklärung bis hin zu den Protesten der sogenannten Querdenker in der jüngsten Vergangenheit und schafft damit die Grundlage für eine historisch informierte Debatte über ein Reizwort der deutschen Geschichte. Die Frage des relativen Gehorsam oder Ungehorsams wurde ab einem bestimmten Zeitpunkt fester Bestandteil der Debatte darüber, was typisch deutsch sei. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts blieb der Gehorsam ein umstrittener Begriff, zu dem sich sowohl positive als auch negative Bezugsrahmen finden. Erst nach 1945 begann das Lob des Gehorsams gänzlich an den Rand des Diskurses zu rücken und das Stereotyp der gehorsamen Deutschen setzte sich endgültig durch. Martin Wagner ist Professor of German an der University of Calgary (Kanada).

Martin Wagner unterscheidet zwischen zwei verschiedenen Gehorsamstypen

Die einzelnen Kapitel des Buchs „Die Deutschen und der Gehorsam“ orientieren sich an bekannten politischen Wegmarken, wie dem Ende der Befreiungskriege im Jahr 1815, der Gründung des Kaiserreichs im Jahr 1871 oder dem Beginn des sogenannten Dritten Reiches im Jahr 1933. Als vielleicht wichtigstes Moment der historischen Entwicklung entpuppt sich die Frage, ob der Gehorsam auf einer freien Entscheidung basiert. Je weniger der Gehorsam als Produkt einer freien Entscheidung verstanden wird, desto negativer fällt die Bewertung des Gehorsams aus.

Eine der vier Hauptthesen im Buch von Martin Wagner lautet: „Die Abwertung des Gehorsams geht einher mit einer Neubewertung der Anstrengung, die Ungehorsam erfordert.“ Während lange Zeit der Gehorsam als mühevoll galt, verdrehte sich die Sichtweise nach 1945 tendenziell in ihr Gegenteil. Die Debatten zum Gehorsam ergeben sich zu einem wesentlichen Anteil aus dem Spannungsverhältnis zwischen zwei verschiedenen Gehorsamstypen: dem „personalen Gehorsam“ gegenüber einzelnen Autoritäten und dem „legalen Gehorsam“ gegenüber einem Kodex von Regeln und Gesetzen.

Mit dem Gehorsam wurde viel Schlimmes betrieben

Tatsächlich ist die Einigkeit in der Kritik des Gehorsams – über die politischen Lager und Generationen hinweg – eines der markentesten Merkmale der zurückliegenden Jahrzehnte. Die Gehorsamskritik ist in allen politischen Lagern gang und gäbe geworden. Im Jahr 2014 veröffentlichte der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Arno Gruen (1923 – 2015) ein dünnes Bändchen mit dem Titel „Wider dem Gehorsam“. Darin analysiert Gruen den Gehorsam als Grundübel der modernen Gesellschaft – als problematische „Grundlage aller sogenannten Hochkulturen.

Vor allem ein soziologisches und psychologischen Hinterfragen dessen, ob Gehorsam überhaupt als Produkt freier Entscheidung zu denken ist, scheinen erheblich dazu beigetragen zu haben, Debatten über Wert und Notwendigkeit des Gehorsams in den Hintergrund zu drängen. Die historische Entwicklung weg von der Kategorie Gehorsam ist nicht unbedingt zu beklagen. Denn nicht nur mit dem Gehorsam wurde viel Schlimmes betrieben – wie eben heut weithin Konsens ist –, sondern zumindest phasenweise auch mit dessen Kritik.

Die Deutschen und der Gehorsam
Von der Aufklärung bis zur Gegenwart
Martin Wagner
Verlag: Campus
Broschierte Ausgabe: 236 Seiten, Auflage: 2025
ISBN: 978-3-593-51915-9, 32,00 Euro

Von Hans Klumbies