Die Dankbarkeit ist eine Verwandte des Zorns

Zorn geht mit der Überzeugung einher, dass das Zielobjekt mit seiner Tat einer Person oder Sache innerhalb des eigenen Sorgenkreises unrechtmäßig Schaden zugefügt hat. Martha Nussbaums Ansicht nach umfasst er ebenfalls den Wunsch, den Täter auf irgendeine Weise leiden zu sehen. Als ersten Verwandten des Zorns nennt Martha Nussbaum erstaunlicherweise die Dankbarkeit. Die beiden Emotionen werden in philosophischen Erörterungen – von den griechischen Epikureern und Stoikern bis zu Baruch de Spinoza und darüber hinaus – in der Regel eng zusammengehalten. Martha Nussbaum erläutert: „Die Dankbarkeit hat genau wie der Zorn sowohl ein Zielobjekt (eine Person) als auch einen Fokus (eine Tat).“ Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

Die Dankbarkeit ist eine vergeltende oder ausgleichende Emotion

Die Dankbarkeit ist eine angenehme Empfindung, mit der man auf die augenscheinlich beabsichtigte Wohltat eines anderen reagiert, in der Meinung, dass sie das eigene Wohlbefinden in signifikanter Weise beeinflusst hat. Sie umfasst nach üblicher Auffassung den Wunsch, der anderen Partei im Gegenzug einen Nutzen zu verschaffen. Martha Nussbaum weiß: „Daher wird sie häufig zusammen mit dem Zorn als eine vergeltende oder ausgleichende Emotion eingeordnet. Sie scheint rückwärts zu weisen, und sie scheint den wohlwollenden Wunsch wie eine Art des Wunschs nach Vergeltung oder Ausgleich zu behandeln.“

Man könnte sich dann auch fragen, ob jemand, der den Zorn kritisiert, wie Martha Nussbaum es tut, nicht konsequenterweise auch die Dankbarkeit zurückweisen müsste. Die Epikureer waren dieser Ansicht und stellten sich die vernünftigen Götter als von beiden Emotionen frei vor. Der Hauptgrund für die Zurückweisung der Dankbarkeit durch Philosophen von Epikur und den Stoikern bis hin zu Baruch de Spinoza besteht nicht in der von ihr umfassten Vorstellung einer ausgleichenden oder zurückgebenden Vergeltung.

Dankbarkeit dient dem Wohlergehen

Der Hauptgrund für die Zurückweisung besteht vielmehr darin, dass Dankbarkeit und Zorn diesen Denkern zufolge ein ungesundes Bedürfnis nach den „Gütern des Glücks“ verraten, die man nicht wirklich kontrollieren kann. Martha Nussbaum akzeptiert die stoische Position nicht, weil es ihrer Meinung nach richtig und wichtig ist, wenn man wenigstens um einige Menschen oder Dinge außerhalb von einem selbst, die man in ihrem Tun nicht zu kontrollieren vermag, besondere Sorge trägt.

Dankbarkeit erhofft Gutes, Zorn dagegen Schlechtes. Daraus ergibt sich eine starke Asymmetrie zwischen den beiden Emotionen. Zudem ist Dankbarkeit, obgleich in gewisser Weise rückwärts gerichtet, oft Teil eines Systems der Gegenseitigkeit, das in wichtigen Aspekten in die Zukunft gerichtet ist und im Ganzen dem Wohlergehen dient. Das in der voreumenidischen Welt des Aischylos bestehende System des Zorns war dem Wohl nicht förderlich, sondern fesselte vielmehr die Menschen der Gegenwart an eine Vergangenheit, die ihr Interesse nicht wert war. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum

Von Hans Klumbies