Martha Nussbaum macht sich Gedanken über den Zorn

Wie alle wesentlichen Emotionen hat auch der Zorn einen geistigen beziehungsweise intentionalen Gehalt, der unter anderem Beurteilungen und Bewertungen verschiedener Art einschließt. Häufig umfasst dieser nicht nur wertgeladene Beurteilungen, sondern auch Ansichten und Überzeugungen. Darüber hinaus sind die im Zorn beteiligten Beurteilungen und Überzeugungen in einem von Martha Nussbaum verwendeten Wort „eudämonistisch“: „Der Einzelne gelangt von seinem Standpunkt aus zu ihnen; sie sind Ausdruck seiner Auffassung von den wichtigen Dingen im Leben, und nicht irgendwelcher losgelösten und unpersönlichen Wertvorstellungen.“ Selbst wenn sich ein Zorn um Grundsatzfragen dreht, wenn Fragen der Gerechtigkeit, vielleicht sogar der globalen Gerechtigkeit eine Rolle dabei spielen, liegt der Grund dafür darin, dass ein Mensch solche Sorgen und Belange in seine Vorstellung davon hat integrieren können, worauf es im Leben ankommt. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

Den Zorn geht mit vielfältigen körperlichen Veränderungen einher

Eine solche Integration in den „eigenen Sorgenkreis“ muss dem Ereignis, das die Emotion auslöst, nicht vorausgehen: Eine plastische Schilderung von Kummer und Leid kann bei einer Person ein Mitgefühl für andere Menschen auslösen, denen sie nie begegnet ist und mit denen sie vorher keine Sorge verbunden hat. Wenn aber keine feste Sorgenstruktur besteht, wird die Emotion nicht mehr als eine Chimäre sein. Martha Nussbaum erklärt: „Dann lassen wir uns von Dingen ablenken, die in größerer Nähe zu unserer Heimat geschehen, und vergessen darüber völlig die Menschen in der Ferne.“

Zorn geht normalerweise mit vielfältigen körperlichen Veränderungen und subjektiven Gefühlszuständen einher. Den Zorn begleiten in der Regel auch gewisse subjektive Empfindungen, die jedoch wahrscheinlich äußerst vielgestaltig sind und die womöglich vollkommen fehlen, wenn der Zorn unbewusst bleibt. So wie die Todesangst unterhalb der Schwelle des Bewusstseins lauern und dennoch Einfluss auf das Verhalten haben kann, ist dies zumindest in manchen Fällen auch beim Zorn möglich. Nicht selten bemerkt jemand im Nachhinein, dass er oder sie auf eine bestimmte Person eine Zeit lang zornig war und dass dieser verdeckte Zorn das eigene Verhalten beeinflusst hat.

Zum Zorn gehören sowohl der Schmerz als auch die Freude

Was macht den Zorn im Einzelnen aus? Einen guten Ausgangspunkt auf diese Frage bildet die Definition des großen griechischen Philosophen Aristoteles. Der Zorn, so heißt es bei Aristoteles, ist „ein von Schmerz begleitetes Trachten nach offenkundiger Vergeltung wegen offenkundig erfolgter Geringschätzung, die uns selbst oder einem der Unsrigen von Leuten, denen das nicht zusteht, zugefügt wurde. Demnach umfasst Zorn die Erfahrung der geringschätzigen Behandlung oder Herabsetzung.

Mit der Wiederholung von „offenkundig“ unterstreicht Aristoteles, dass es für die Emotion maßgeblich darauf ankommt, wie sich die Situation aus dem Blickwinkel der zornigen Person darstellt, und nicht darauf, wie sie wirklich ist – was natürlich anders sein könnte. Der Zorn ist eine ungewöhnlich komplexe Emotion, weil er sowohl Schmerz als auch Freude einschließt: Aristoteles formuliert knapp, dass die Aussicht auf Vergeltung erfreulich ist. Außerdem hat der Zorn zwei Bezugsgegenstände: eine oder mehrere Personen sowie eine Handlung. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum

Von Hans Klumbies