Zorn in der Ehe rührt oftmals von ungerechtfertigten Geschlechterrollen her

Zorn in vertrauten Beziehungen resultiert häufig aus einer der zahlreichen falschen Wertvorstellungen einer Gesellschaft in Bezug auf Fehlverhalten und die Schwere, mit der es ins Gewicht fällt. Beispielsweise das Streben nach Unabhängigkeit von Kindern und selbst ihre Suche nach bloßem Vergnügen häufig äußerste Missbilligung erfahren. Martha Nussbaum nennt ein weiteres Beispiel: „So verbindet sich auch der Zorn in der Ehe in vielen Fällen mit Annahmen und Erwartungen, die maßgeblich von ungerechtfertigten Geschlechterrollen herrühren; Männer haben namentlich das Streben der Frauen nach Unabhängigkeit und Gleichheit als besonders bedrohlich empfunden.“ Es ist oft schwierig zu trennen zwischen Fällen, in denen Zorn unangebracht ist, weil die betreffende Person gegen eine schlechte gesellschaftliche Norm verstoßen, aber nichts wirklich Falsches getan hat, und Fällen, in denen ein wirkliches Unrecht geschehen ist. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

Narzissmus und Angst gehören zum menschlichen Leben

Eine ständige Quelle kulturellen Irrtums speist sich aus Hierarchie- und Statusdenken. Die zwanghafte Konzentration auf den Status ist nur zum Teil kulturell bedingt; Narzissmus und Angst gehören zum menschlichen Leben, und wegen der großen Verwundbarkeit, die vertraute Beziehungen mit sich bringen, finden sie sich dort besonders häufig. Wenn Menschen Hierarchien errichten und andere unter Kontrolle zu halten versuchen, ist dies in vielen Fällen Ausdruck einer universellen menschlichen Neigung in einer Welt der Machtlosigkeit und des Ausgeliefertseins.

Die für vertraute Beziehungen geltenden Normen zählen zu den umstrittensten und ungewissesten im menschlichen Leben. Es scheint jedoch klar zu sein, dass es manche Fälle von Zorn in vertrauten Beziehungen gibt, in denen dieser begründet ist, weil ein wirkliches Unrecht begangen wurde. Zorn aufgrund von Misshandlung, Gewalt, Betrug – aber auch wegen Grobheit oder dem Fehlen von Sorge und Unterstützung – ist häufig begründet. Denn Freundschaft, Liebe und familiäre Beziehungen stellen jede für sich ein wichtiges Gut dar und sie alle sind es wert, dass man sich intensiv um sie kümmert.

In der Regel werden Kinder von ihren Eltern innig geliebt

Kinder versetzen ihre Eltern manchmal in Zorn. Sie sind ungezogen, ungewaschen, ungehorsam und faul. Sie machen ihre Hausaufgaben nicht. Sie beteiligen sich nicht am Haushalt. Außerdem tun sie ein paar wirklich schlimme Dinge: Sie erzählen Lügen, begehen Diebstähle, halten sich nicht an ihre Versprechen, tyrannisieren andere Kinder. Martha Nussbaum ergänzt: „Manchmal schaden sie sich und ihrer eigenen Entwicklung, indem sie beispielsweise Drogen nehmen. Und manchmal, wenn auch seltener, begehen sie schwere Verbrechen.“

Darum werden Zorn und Wut mit ziemlicher Sicherheit selbst in den besten Eltern-Kind-Beziehungen eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Die Beziehung zwischen Elternteil und Kind – wenn sie sich kennen und in gewissem Umfang zusammenleben – ist für das Wohlbefinden beider enorm wichtig. In der Regel sind Kinder von ihren Eltern unbedingt gewollt und werden von ihnen innig geliebt. Außerdem verlängern sie die elterliche Existenz gleichsam in die Zukunft, lassen sie an der Unsterblichkeit teilhaben und geben ihnen eine Möglichkeit, weiter an der Welt mitzuwirken. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum

Von Hans Klumbies