Die revolutionäre Zornlosigkeit ist eine unmittelbare Aufgabe

Die revolutionäre Zornlosigkeit Mahatma Gandhis und Martin Luther Kings bildet keine ferne Hoffnung, sondern sie versteht sich als unmittelbare Aufgabe, der man sich in der Auseinandersetzung mit der Ungerechtigkeit hier und jetzt annehmen soll. Martha Nussbaum ergänzt: „Sie umfasst eine Reihe psychologischer und verhaltensbezogener Praktiken, die von den Mitgliedern der Bewegung nicht nur angenommen, sondern auch tief verinnerlicht werden müssen.“ Weil es sich dabei jedoch um keine individuelle Psychotherapie handelt, sondern vielmehr um eine Form der Massenkultivierung, muss sie mit einer expliziten Theorie einhergehen, damit jede der Bewegung zugehörende Person deren Ziel kennen und neue Anhänger in Haltungen und Praktiken einweisen kann. Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.

Gandhi und King fügen ihrer Argumentation religiöse Bilder hinzu

Martha Nussbaum stellt fest: „Dies ist unser Glück: Gandhi und King haben uns jeweils reichlich theoretisches Material hinterlassen, in dem wir die Empfindungs- Verhaltensaspekte der Zornlosigkeit beschrieben und begründet finden.“ Und auch Nelson Mandela hat eine Reihe bemerkenswerter informeller Beobachtungen hinterlassen, denen man möglicherweise eine zwingende Argumentation zugunsten der Zornlosigkeit entnehmen kann.

Martha Nussbaum behauptet, dass Mahatma Gandhi und Martin Luther King in ihrer Argumentation eine Lücke frei lassen, die sie mit nachhallenden religiösen Bildern füllen, von denen sich viele Anhänger inspirieren ließen, die jedoch nicht alle philosophischen Fragen beantworten. Nelson Mandela schließt diese Lücke. Zunächst muss man sich fragen: Zornlosigkeit oder Gewaltlosigkeit? Beides wird häufig in einen engen Zusammenhang gerückt, und viele Menschen, die Mahatma Gandhi und Martin Luther King verehren, glauben, dass Gewaltlosigkeit die Leitidee darstelle und Zornlosigkeit ein übertriebenes Ideal.

Revolutionäre Bewegungen benötigen eine geistige Revolution

Martha Nussbaum vertritt die Meinung, dass Menschen für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden können, doch sicher nicht für ihre emotionalen Zustände. Es gehe zu weit, wenn von ihnen verlangt würde, sie sollten verändernd auf ihre inneren Zustände einwirken. Diese Auffassung teilten Mahatma Gandhi und Martin Luther King nicht: Ihnen zufolge wird eine revolutionäre Bewegung ein verlässliches Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit nur durch eine geistige Revolution erreichen können, bei der die Menschen ihre Ziele und ihre Unterdrücker in einem Geist der Liebe und Großzügigkeit mit neuen Augen betrachten.

Beide glauben, dass diese Revolution durch entsprechende Schulung und Solidarität möglich sei – auch wenn Martin Luther King wichtige Zugeständnisse an die menschliche Schwäche macht. Sie sind auch der Ansicht, dass es am Ende, wenn es darum geht, eine neue politische Welt zu schaffen, in der Hauptsache auf Zornlosigkeit ankommt. Denn schließlich müssen wir in diesem großzügigen und nicht nachtragenden Geist zusammenarbeiten können, wenn der Anlass zur Gewalt schon lange nicht mehr besteht. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum