Martha Nussbaum beschäftigt folgende Frage: „Ist Zorn nicht aber edel, wenn die Gesellschaft verdorben und brutal ist?“ Wenn Menschen niedergehalten werden, lernen sie allzu oft, sich in ihr „Schicksal“ zu fügen. Sie bilden „adaptive Präferenzen“, sagen sich, dass ihr Los akzeptabel sei und sie es stillschweigend hinnehmen sollten. Wenn sie sich aber ergeben, wird eine Veränderung unwahrscheinlich. Damit sozialer Fortschritt in Gang kommt, braucht es zunächst einmal Menschen, die erwachen und sich der ungerechten Behandlung, die sie durch die Gesellschaft erfahren, bewusst werden. Und geht man nicht davon aus, dass aus diesem Bewusstwerden berechtigter Zorn erwächst? Martha Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaften und Ethik an der University of Chicago. Sie ist eine der einflussreichsten Philosophinnen der Gegenwart.
Manchmal ist die Rechtsstruktur selbst ungerecht und verdorben
Wenn Menschen sich ungerecht behandelt fühlen und darüber nicht in Zorn geraten, ist dann nicht irgendetwas verkehrt in ihrem Denken? Scheinen sie dann nicht beispielsweise ihre Würde und ihre Rechte zu gering zu schätzen? Der Zorn hat laut Martha Nussbaum offenbar drei wichtige Funktionen: Erstens gilt er als nützliches Signal dafür, dass die Unterdrückten das Unrecht erkannt haben, das ihnen zugefügt wird. Er scheint außerdem ein unerlässlicher Antrieb für sie zu sein, um gegen die Ungerechtigkeit zu protestieren, sie zu bekämpfen und um der übrigen Welt zu vermitteln, wogegen sich ihr Unmut richtet.
Und schließlich scheint Zorn ganz einfach berechtigt zu sein: Es ist richtig, wenn man sich über furchtbares Unrecht empört, und folglich bringt der Zorn etwas Zutreffendes zum Ausdruck. Wenn die juristische Grundstruktur einer Gesellschaft gefestigt ist, können die Menschen sich zur Wiedergutmachung oder Entschädigung an das Recht wenden. Manchmal aber ist die Rechtsstruktur selbst ungerecht und verdorben. Dann geht es für die Menschen nicht bloß darum sicherzustellen, dass dieses oder jenes spezielle Fehlverhalten rechtlich sanktioniert wird, sondern dann muss letztlich die Rechtsordnung verändert werden.
Zornlosigkeit ist keine unterwürfige Haltung
Diese Aufgabe unterscheidet sich von jener, die Gerechtigkeit im Alltag zu wahren, liegt mit ihr aber auf einer Linie. Sie scheint Zorn zu verlangen, auch wenn dies auf die Alltagsgerechtigkeit nicht zutrifft. Martha Nussbaum betont: „Schaut man sich andererseits die erfolgreichsten Kämpfe für revolutionäre Gerechtigkeit der letzten hundert Jahre an, fällt unmittelbar auf, dass drei der prominentesten – und dauerhaft erfolgreichsten – Kämpfe zutiefst der Zornlosigkeit verpflichtet waren, auch wenn sie gewiss nicht in einem duldenden Geist geführt wurden.
Mahatma Gandhi, der Zorn strikt ablehnte und bei sich selbst offensichtlich erfolgreich bekämpft hatte, stellte der Welt unter Beweis, dass Zornlosigkeit keine schwächliche oder unterwürfige Haltung ist, sondern eine Haltung der Stärke und der Würde. Er brachte Empörung zum Ausdruck, doch stets in einem vorausschauenden und von Zornlosigkeit geprägten Geist. Martin Luther King jr. Folgte Mahatma Gandhi und trat sowohl für Zornlosigkeit als auch für Gewaltlosigkeit ein. Quelle: „Zorn und Vergebung“ von Martha Nussbaum
Von Hans Klumbies