Der Schein ist Sein

In seinem neuen Buch „Fiktionen“ entwickelt Markus Gabriel eine realistische Philosophie der Fiktionalität. Diese legt zugleich die Fundamente einer Theorie der Objektivität der Geisteswissenschaften. Markus Gabriel hat damit nicht mehr und nicht weniger als ein philosophisches Grundlagenwerk geschaffen. Im Zentrum seines Denkens steht die „Selbstbildfähigkeit“ des Menschen. Diese wird fundamental sozial reproduziert, ohne deswegen sozial reproduziert zu sein. Fiktionen sind laut Markus Gabriel wirksame Prozesse der Selbstdarstellung der geistigen Lebensform des Menschen. Um dies anzuerkennen muss der anthropologischen Zentralstellung der Einbildungskraft zu ihrem Recht verholfen werden. Auf diese Weise überwindet der Neue Realismus von Markus Gabriel den falschen Gegensatz von Sein und Schein. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Die Philosophie muss den Zeitgeist kritisieren

Der Schein ist Sein. Denn Menschen entrinnen der Wirklichkeit nicht dadurch, dass sie sich täuschen, oder getäuscht werden. Das Wirkliche ist nämlich dasjenige, zu dem keiner erfolgreich auf Abstand gehen kann. Jeder Fluchtversuch ist zum Scheitern verurteilt. Die Wirklichkeit wird die persönliche Einbildung allenfalls verändert. Kein Gedanke und keine Tätigkeit bringen sie zum Verschwinden. Der Zeitgeist ist dabei die jeweils geltende Konstellation eines Scheins, der gewisse Fehlschlüsse und Ungereimtheiten legitimiert.

Diese lösen sich allerdings bei genauerem philosophischem Hinsehen auf. Markus Gabriel stellt fest: „Eine wesentliche Aufgabe der Philosophie besteht darin, den Zeitgeist zu erfassen, um ihn zu kritisieren.“ Die im vorliegenden Buch ausgedrückten Gedanken basieren auf der Annahme, dass der Zeitgeist, gegen den es sich wendet, auf einer verdrehten Differenz von Sein und Schein beruht. Der Schein wird zu Unrecht gänzlich auf die Ebene der Nicht-Existenz verschoben. Damit wird er in seiner eigentümlichen Wirksamkeit unsichtbar gemacht.

Das postfaktische Zeitalter muss verjagt werden

Die sowohl naturalistische als auch postmoderne Selbstbeschädigung der modernen Subjektivität muss überwunden werden. In seinem Buch „Fiktionen“ stellt Markus Gabriel eine humanistische Unhintergehbarkeitsthese auf. Dieser zufolge ist der Mensch die unhintergehbare Ausgangslage jeder ontologischen Untersuchung, die sich mit elementaren Fragen zu allem Seienden befasst. Auf jedem Weg zum Sein, sprich den Tatsachen, kommt man am Schein nicht vorbei.

Am Ende seines Buches fordert Markus Gabriel das Gespenst des postfaktischen Zeitalters zu verjagen. Denn es handelt sich dabei um einen vorgezogenen Totentanz, die Ahnung, dass die derzeitige sozioökonomische globale Ordnung nicht nachhaltig ist. Zudem stimmt es schlicht nicht, dass, wo Gefahr ist, das Rettende auch wächst. Ob es Rettung vor der Selbstauslöschung des Menschen gibt, hängt auch davon ab, ob die Menschheit den Schein überwindet. Dazu hat der Philosoph eine Theorie vorgelegt, die ontologisch erlaubt, Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden, ohne damit die Wirklichkeit der Fiktion zu bestreiten.

Fiktionen
Markus Gabriel
Verlag: Suhrkamp
Gebundene Ausgabe: 636 Seiten, Auflage: 2020
ISBN: 978-3-518-58748-5, 32,00 Euro

Von Hans Klumbies

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