Einige Gegenstände des Nachdenkens sind fiktiv. Sie existieren, wenn überhaupt, dann nur deswegen, weil die Menschen ihnen durch ihre diskursiven Praktiken die Existenz gewissermaßen leihen. Markus Gabriel stellt fest: „Sie existieren nicht unabhängig von uns.“ Eine Möglichkeit, diese geläufige Vorstellung näher zu bestimmen, besteht darin, fiktive Gegenstände an Fiktionen zu binden. Sie also nicht nur als fiktiv, sondern überdies als fiktional, also ausgedacht, zu betrachten. „Fiktional“ wären dann diejenigen Gegenstände, von denen Fiktionen handeln, also literarische oder allgemeiner ästhetische Darstellungsformen in allen Kunstgattungen. Dies gilt, sofern in ihnen Gegenstände zur Darstellung gelangen, von denen man gemeinhin urteilen würde, sie existieren nicht. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne. Zudem ist er dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Gretchen existiert als Person und als reine Einbildung
Doch dies wirft umgehend eine doppelte begriffliche und somit philosophische Schwierigkeit auf. Die erste Facette des zu behandelnden Problems besteht darin, dass dieselben Gegenstände Widersprüche generieren, wenn man ihre fiktiven und fiktionalen Eigenschaften zusammenstellt. Markus Gabriel nennt ein Beispiel: „Gretchen hat in „Faust“ die Eigenschaft, in einer erotischen Beziehung zu Faust zu stehen. In „Faust“ hat Gretchen überdies eine Mutter, sie ist also vermutlich eine junge Frau aus Fleisch und Blut.“
Der fiktive Gegenstand Gretchen ist also eine mehr oder weniger gewöhnliche, durchaus menschliche „dramatis persona“. Als fiktionaler Gegenstand existiert sie dabei anscheinend nicht unabhängig davon, dass man sie sich in dieser Weise vorstellt. Denn außerhalb des „Faust“ findet man sie nicht unter den Sterblichen vor. Wie kann also derselbe Gegenstand des Nachdenkens, in diesem Fall Gretchen, sowohl als Person als auch als reine Einbildung existieren?
Fiktionale Gegenstände existieren als Fiktionen
In der Regel gilt, dass diejenigen Gegenstände, die man sich bloß einbildet, die intendierten Eigenschaften nicht haben. Wenn man sich Gretchen in diesem Sinn „bloß einbildet“, kann sie keine junge Frau aus Fleisch und Blut sein. Doch dann sind viele Aussagen, die man im Text von „Faust“ findet, anscheinend falsch. Denn sie behaupten entweder geradewegs oder implizieren, dass Gretchen diese Eigenschaften hat. Es gibt also einen fiktionalen Gegenstand, der immerhin existiert, solange man ihn sich im Medium von Fiktionen einbildet.
Dann gibt es den fiktiven Gegenstand, den man sich dabei einbildet. Diese beiden haben also anscheinend Eigenschaften, die sich widersprechen. Die zweite, damit zusammenhängende Schwierigkeit besteht darin, dass fiktionale Kontexte nicht nur Gegenstände zu beinhalten scheinen, die fiktiv sind. In Michel Houellebecqs Romanen geht es häufig um Paris. Paris ist kein fiktiver Gegenstand, jedenfalls nicht in derselben Weise wie Jed Martin, der Protagonist von „Karte und Gebiet“. Quelle: „Fiktionen“ von Markus Gabriel
Von Hans Klumbies