Denken hat immer etwas mit Gefühlen zu tun

Dank ihrer Sinnlichkeit sind die Menschen in jedem Augenblick ihres bewussten Lebens – auch im Traum – auf Tuchfühlung mit dem Wirklichen. Markus Gabriel stellt fest: „Unsere Empfindungen, unser Kontakt mit dem, was es wirklich gibt, konfrontiert uns zum Glück nicht nur mit dem Widerstand und der Widerwärtigkeit des Lebens.“ Der Mensch ist so sehr ein soziales Lebewesen, dass Mitglieder seiner Spezies in den ersten Monaten und Jahren überhaupt nur überleben, wenn sie Liebe als den Umstand erfahren, dass andere geistige Lebewesen sich ihnen schützend zuwenden. Darüber hinaus vertritt die Tiefenpsychologie die These, dass jeder Mensch eine Einstellung zu sich selbst als denkendes Lebewesen hat. Seit 2009 hat Markus Gabriel den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.

Gedanken fühlen sich unterschiedlich an

Seine Denkakte und seine Inhalte erlebt ein Mensch immer auf eine bestimmte Weise – und damit auch emotional gefärbt. Markus Gabriel erläutert: „Es gibt kein intentionales Bewusstsein ohne phänomenales Bewusstsein, das heißt, wir können über nichts nachdenken, ohne uns dabei zugleich irgendwie zu fühlen.“ Der geistige Gesamtzustand eines Menschen setzt sich in jedem Moment aus Gefühlen und Gedanken zusammen, wobei die erlebten Gefühle und Stimmungen sich nicht selber auf die Wirklichkeit beziehen.

Nicht jeder Gedanke fühlt sich auf eine genau bestimmte Weise an. Genau genommen ist es das phänomenale Bewusstsein, die jeweilige Befindlichkeit, das Hintergrundrauschen des menschlichen Gesamtorganismus. Dazu tragen unzählige Elemente bei, unter anderem das umgangssprachlich so genannte Bauchhirn, das heißt das enterische Nervensystem, das sich im Magen-Darm-Trakt befindet. Das Erleben ist eine Art Echokammer des menschlichen Organismus, in dem die Zustände intern verarbeitet und intentional zugänglich werden.

Die Wahrheit allein kann Denkvorgänge nicht erklären

Es besteht eine Wechselwirkung zwischen phänomenalem und intentionalem Bewusstsein, die als besagtes Bauchgefühl bekannt ist. Wenn jemand über sein Denken selbst nachdenkt, entkommt er seiner Persönlichkeitsstruktur keineswegs. Markus Gabriel erklärt: „Auch im Denken über unser Denken drücken wir eine Einstellung dazu mit aus, als wer wir uns selber auffassen und wie wir gerne gesehen werden wollen. Die Gedanken, die wir denken, fallen uns nicht nur ein, weil wir an ihrer Wahrheit interessiert sind.“

Es gibt zu viele wahre und falsche Gedanken, als dass Wahrheit der alleinige Faktor zur Erklärung der menschlichen Denkvorgänge sein könnte. Die Lebensform des Menschen und sein individuelles Leben wählen im Hintergrund des bewussten Erlebens diejenigen Gedanken aus, die ihnen einfallen. Dieser Vorgang nennt sich emotionale Intelligenz. Sie entsteht im Zusammenhang einer ökologischen und sozialen Nische. Es besteht eine Rückkopplung der Umgebung eines Menschen über seine motorische Erfahrung an seine internen Zustände. Quelle: „Der Sinn des Denkens“ von Markus Gabriel