„Das Ich“ ist ein ominöser Begriff, der heute neben „dem Selbst“ vage als Name für die Schaltzentrale des Denkens, Fühlens und Wollens verwendet wird. Neurozentriker argumentieren üblicherweise dafür, dass es kein Ich oder Selbst gibt, da es sich im Gehirn nicht nachweisen lässt. Markus Gabriel erklärt: „Es ist völlig richtig, dass das Ich oder das Selbst kein Ding unter Dingen ist. Es existiert nicht in derselben Ordnung der Dinge neben Ratten, Katzen oder Matratzen. Wer dies meint, täuscht sich in der Tat.“ Es ist nämlich die Philosophie, den Ichbegriff entwickelt hat. Dass es sich beim Ich um eine Illusion handeln könnte, ist ein alter Verdacht, für den prominent Buddha, David Hume und Friedrich Nietzsche stehen. Markus Gabriel hat seit 2009 den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie.
Die „Bündeltheorie des Ichs“ geht auf David Hume zurück
In der Tradition David Humes spricht man von einer „Bündeltheorie des Ichs“, die sich von einer „Substanztheorie des Ichs“ unterscheidet. Die Bündeltheorie des Ichs nimmt an, dass wir uns zwar in vielen Bewusstseinszuständen (also Zuständen des Denkens, Fühlens und Wollens) vorfinden, dass das Ich aber nicht mehr ist als die bloße Summe dieser Zustände. Das Ich ändert sich demnach ständig, je nachdem, welche Zustände vorliegen und ist kein dauernder Bestand. Das ich sei demnach ein Bündel.
Die Substanztheorie des Ichs meint dagegen, das Ich sei derjenige, diejenige oder dasjenige, dem diese Zustände des Denkens, Fühlens und Wollens überhaupt erscheinen. Es unterscheidet sich insofern von all seinen Zuständen, als es sie haben kann. Eine Substanz ist der Träger von Eigenschaften, sie hat also Eigenschaften. Wenn das Ich eine Substanz wäre, unterschiede es sich von seinen Gedanken und Empfindungen dadurch, dass es diejenige Instanz wäre, welche die Gedanken und Empfindungen hat. Das Ich erschöpft sich dieser Theorie zufolge nicht in seinen Zuständen, sondern befindet sich in bewertendem Abstand zu diesen.
In der Phänomenologie spielt das Ich eine zentrale Rolle
Identifiziert man das Ich mit dem Gehirn, hat man eine Form der Substanztheorie. Ein einflussreicher Zweig der gegenwärtigen Bewusstseinsphilosophie ist von der sogenannten Phänomenologie beeinflusst, einer philosophischen Richtung, die im 19. Jahrhundert ihren Ausgang nimmt und maßgeblich von dem Mathematiker und Philosophen Edmund Husserl ausgearbeitet wurde. Die Phänomenologie beschäftigt sich mit verschiedenen Formen von Schein, Erscheinung, Illusion und so weiter und deren Unterscheidung.
Dabei spielt das Ich von vornherein eine zentrale Rolle, sofern man es als etwas auffassen kann, dem überhaupt etwas anderes erscheint. Markus Gabriel erscheint gerade sein Bildschirm sowie eine Vielzahl von anderen Gegenständen und subjektiv erlebten Eindrücken, die alle in einem als einheitlich erlebten Bewusstseinsfeld, seinem erlebten Jetzt-Zustand, zusammenhängen. Unter den gegenwärtigen Bewusstseinsphilosophen schließen sich viele der Phänomenologie an, selbst wenn sie – anders als die großen Phänomenologen wie Franz Brentano, Edmund Husserl, Jean Paul Sartre, Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty – gleichzeitig Naturalisten sind. Quelle: „Ich ist nicht Gehirn“ von Markus Gabriel
Von Hans Klumbies