Das deutsche Steuersystem ist ungerecht

Wie kann es sein, dass in einem so reichen Land wie Deutschland so viele Menschen nur wenig oder gar keine Ersparnisse bilden können? Marcel Fratzscher nennt zentrale Gründe: „Der erste zentrale ist die Einkommensungleichheit. Denn nicht nur bei den Vermögen, sondern auch bei den Einkommen ist die Schere in den letzten dreißig Jahren weiter auseinandergegangen.“ Die einkommensschwächsten 20 Prozent der Bevölkerung haben vom allgemeinen Anstieg der Einkommen nicht profitiert. Sie gingen leer aus. Noch schlimmer: Betrachtet man nur die letzten beiden Jahrzehnte, dann muss diese Gruppe sogar fallende reale Einkommen hinnehmen. Das hat Auswirkungen. Wenn Einkommen stagnieren oder sogar fallen, dann versuchen Menschen als Erstes, ihren Lebensstandard zu sichern. Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und Professor für Makroökonomie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Bei der Steuer kommen die Reichsten häufig am besten davon

Ein weiterer Grund, der ebenso wesentlich ist wie die ungleiche Lohn- und Einkommensentwicklung, ist das deutsche Steuersystem. In keinem anderen Industrieland besteuert der Staat Vermögen so gering, Einkommen und Arbeit dagegen so hoch. Und wenn Vermögen besteuert werden, dann kommen die Reichsten häufig am besten davon. Ein typisches Beispiel ist die Erbschaftssteuer. Menschen, die mehr als 20 Millionen Euro erben, zahlen nur einen halb so hohen Steuersatz auf ihre Erbschaft wie Menschen mit geringen Erbschaften.

Die Erbschaften selbst sind der dritte Grund für die großen Vermögensunterschiede. Denn mehr als die Hälfte aller privaten Vermögen in Deutschland wird heute ererbt und nicht erarbeitet. Marcel Fratzscher stellt fest: „Dazu kommt, dass auch der Bildungserfolg wesentlich stärker von der Herkunft des Kindes abhängt als in anderen Ländern.“ Das Ergebnis: Kinder aus sozial und einkommensschwachen Familien erreichen meist einen deutlich geringeren Bildungsabschluss. Zudem haben sie geringere Einkommen und erben nichts oder wenig.

Reichtum in Deutschland ist oft verpönt

Im Gegensatz dazu haben Kinder aus einkommensstarken Familien in der Regel einen deutlich höheren Bildungsabschluss, viel höhere Einkommen und eben zudem noch viel. In den USA heißt es, es sei respektabel in Reichtum zu leben, jedoch inakzeptabel, in Reichtum zu sterben. In Deutschland gilt das Gegenteil. Es ist oft verpönt, in Reichtum zu leben, aber höchst respektabel, in Reichtum zu sterben und den Kindern und Enkelkindern möglichst viel zu vererben.

Woher kommt diese Mentalität? Und welche Folgen hat das für die Gesellschaft? Marcel Fratzscher weiß: „In den USA ist es nicht unüblich, seine Kinder und Enkelkinder zu enterben. Vielen wohlhabenden Amerikanern geht es dabei nicht nur um den Stifter-Gedanken, also dem Wunsch, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Sie glauben auch, im Interesse ihrer Kinder und Enkelkinder zu handeln.“ Das Enterben ihrer Kinder begründen viele damit, dass sie diesen keine Steine in den Weg legen wollen, indem sie sie durch Verpflichtungen gegenüber dem Familienerbe beschränken. Sie wollen ihnen die Freiheit geben, ihr eigenes Leben zu leben. Quelle: „Geld oder Leben“ von Marcel Fratzscher

Von Hans Klumbies