Magersucht gilt als eine der gefährlichsten psychischen Erkrankungen überhaupt, wird in der allgemeinen Wahrnehmung aber häufig unterschätzt. Professor Stephan Herpertz, einer der führenden Magersuchtforscher in Deutschland, erklärt: „Wenn man sich den Langzeitverlauf von 13 bis 15 Jahren nach einer Therapie ansieht, liegt die Sterblichkeit bei 15 Prozent. Es ist nicht genug, was wir leisten.“ Zum Vergleich: An Brustkrebs sind nach zehn Jahren 17 Prozent der Erkrankten gestorben. Während es heute für viele psychische Erkrankungen Medikamente gibt, die wenigstens einen Teil der Symptome reduzieren, gibt es weiterhin keine Pille gegen Magersucht. Einzig die Psychotherapie stellt ein geeignetes Mittel dar. Etwa die Hälfte der meist weiblichen Magersucht-Patienten hat nach einer Therapie keine Symptome mehr, bei etwa einem Viertel tritt zumindest eine Besserung ein. Doch bei dem restlichen Viertel wird das Leiden chronisch.
Die Diagnose Magersucht nimmt bei Frauen im Alter von 45 bis 55 zu
Professor Stefan Ehrlich, der in Dresden das Zentrum für Essstörungen am Uniklinikum Carl Gustav Carus leitet, berichtet: „Das Durchschnittsalter unserer Patientinnen hat sich nach vorne verschoben. Vor zwanzig Jahren lag es bei 15, 16 Jahren. Jetzt ist es 14.“ Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Pubertät beginnt eher, die Mädchen beschäftigen sich eher mit ihrem Körper, schminken sich bereits im Kindergarten. Judith Müller, Psychologische Psychotherapeutin an der Christoph-Dornier-Klinik in Münster, kritisiert: „Heute macht man schon mit neun oder zehn Jahren erste Diäten.“
Auch bei Frauen im Alter von 45 bis 55 verzeichnet die Kassenärztliche Bundesvereinigung zwischen 2011 und 2014 eine Zunahme der Diagnose Magersucht. Dabei gehen die Wissenschaftler davon aus, dass bei älteren Frauen Symptome eines gestörten Essverhaltens von Ärzten oft nicht als Magersucht eigestuft werden. Es muss also mit einer hohen Dunkelziffer gerechnet werden. Ulrike Ehlert, Psychologie-Professorin an der Universität Zürich, erklärt: „Die Betroffenen landen meist nicht in einer Klinik für Essstörungen, sondern eher beim Internisten, der ihnen Infusionen gibt, um Mangelerscheinungen auszugleichen.“
Kritische Lebensereignisse können die Magersucht reaktivieren
Ulrike Ehlert hat die Wechseljahre als möglichen Auslöser für Magersucht ausgemacht. Der Östrogenspiegel sinkt, das appetitanregende Hormon Ghrelin hat freie Bahn. Viele Frauen nehmen in dieser Lebensphase ein paar Kilo zu. Das und weitere Veränderungen ihres Körpers machen ihnen zu schaffen. Ulrike Ehlert erläutert: „Sie finden das bedrohlich und zügeln ihr Essverhalten extrem.“ Wenn Betroffene zum Beispiel ganze Lebensmittelgruppen – etwas Süßigkeiten oder Brot – strikt vom Speiseplan streichen, sprechen Experten von „Restrained Eating“ (engl. für „gezügeltes Essverhalten).
Ulrike Ehlert warnt: „Wer sich viele Speisen komplett verbietet, befindet sich auf einer Vorstufe zur Essstörung.“ Die Wechseljahre seien ähnlich wie die Pubertät eine kritische Phase für Essstörungen, so ein Ergebnis einer Studie der Universitätsklinik Innsbruck. Auch kann Magersucht, die in der Jugend entstanden und dann zur Ruhe gekommen ist, in späteren Lebensphasen wieder aufflammen. Häufig reaktiviert ein kritisches Lebensereignis die Krankheit, etwa eine Trennung, eine Scheidung oder der Verlust des Arbeitsplatzes. Quelle: Apotheken Umschau
Von Hans Klumbies