Social-Media-Plattformen sind voll von Inhalten zu psychiatrischen Diagnosen

Laura Wiesböck beschreibt in ihrem neuen Buch „Digitale Diagnosen“, dass Social-Media-Plattformen voll sind von Inhalten zu psychiatrischen Diagnosen – und das nicht erst seit der COVID-19-Pandemie. Darin zeigt sich ein historisches Kontinuum: Was von wem als pathologischer Zustand verstanden wird, unterliegt laufenden Aushandlungsprozessen. Definitionen von „krank“ und „gesund“ sind keine objektiven Parameter. Sie sind sozial konstruiert, gesellschaftlich vermittelt, unterliegen spezifischen „Moden“ und sind abhängig von unterschiedlichen Interessen und vorherrschenden Werten. Sieht man die bisherigen Analysen über die gesellschaftliche Popularisierung von psychiatrischen Diagnosen an, wird vielfach der Standpunkt vertreten, dass ökonomische Interessen der Gesundheitsindustrie dahinterstünden. Andere Stimmen betonen, unsere gegenwärtige Kultur sei auf Schmerzverbeidung und damit Daueranästhesierung ausgelegt. Laura Wiesböck ist promovierte Soziologin und leitet die Gruppe „Digitalisierung und soziale Transformation“ am Institut für Höhere Studien Wien.

Das Selbst ist fragil und verletzungssensibel wie kaum zuvor

Auf Social-Media-Plattformen finden insbesondere Ansätze einer psychosozialen Systemkritik Anklang, nach denen der Kapitalismus krank mache. Dabei steht das Selbst immer mehr im Fokus, das so fragil und verletzungssensibel ist wie kaum zuvor. Laura Wiesböck schreibt: „Moderne Ansprüche der Produktivität, Effizienz, Eigenverantwortung und Lustorientierung lassen hingegen wenig Platz für Dysfunktionalität, Phasen der Orientierungslosigkeit oder das Zulassen und Ausleben von emotionalen Schmerz.“

Die Verschiebung von Unwohlsein in den medizinischen Bereich erlaubt zu leiden, das Leid nach außen zu tragen und sich von einer persönlichen Verantwortung zu entlasten. Man ist dann kein unzufriedener Mensch, sondern ein Patient, der im eigenen Unbehagen von sich und anderen ernst genommen werden muss. Ziel des Buchs „Digitale Diagnosen“ ist es unter anderem, besser zu verstehen, wie und warum Menschen online mit der Kategorie psychischer Erkrankungen interagierten, um ihrem Selbstverständnis Bedeutung zu verleihen und Gemeinschaften zu bilden.

Persönliches Wohlbefinden kann nicht durch Konsum entstehen

In gegenwärtigen Online-Kulturen gibt es eine große Bereitschaft, sich mit psychiatrischen Diagnosen zu identifizieren und diese öffentlich zu zeigen. Die vordergründig propagierte Absicht hinter dem Sichtbarmachen von schmerzhaften Tabus ist, ein breiteres Verständnis und Empathie mit Erkrankten zu fördern. Dabei finden wichtige Entstigmatisierungsprozesse statt, die bewirken können, dass sich Betroffene eher Hilfe suchen und sich in ihrem Leid nicht sozial isoliert fühlen, sondern als Teil einer „virtuellen Community“.

Um psychisches Leiden langfristig zu lindern, ist eine Gesellschaftsform, in der Beziehungen und emotionale Zuwendung eigennützigen und leistungsorientierten Austauschverhältnissen unterliegen, wenig dienlich. Ebenso wenig förderlich dafür ist ein auf Profitmaximierung ausgelegtes System, das strukturell psychische Belastungen erzeugt und diese mit individuell gewinnbringenden Behandlungen zu lindern verspricht. Persönliches Wohlbefinden lässt sich nicht durch individuelles Wachstum abbilden, das auf Konsum, Wettbewerbsorientierung und Funktionalität beruht.

Digitale Diagnosen
Psychische Gesundheit als Social-Media-Trend
Laura Wiesböck
Verlag: Zsolnay
Gebundene Ausgabe: 173 Seiten, Auflage 2: 2025
ISBN: 978-3-552-07542-9, 22,00 Euro

Von Hans Klumbies