Frankreich verdankt Kurt Tucholsky seine besten Jahre (6. Teil)

Schon lange war Frankreich das Land der Sehnsucht von Kurt Tucholsky. Es verkörperte für ihn die Nation der Aufklärung und der großen Revolution von 1789, die Nation der Demokratie und der republikanischen Freiheit, die Nation der Literatur und des Cabarets, des Chansons und des Theaters. Es war für ihn ein Land, in dem geistig Arbeitende ruhig, zufrieden und halbwegs geachtet leben konnten. Und dorthin wollte er als eine Art „Auslandskorrespondent für kulturelle Angelegenheiten“. Das Gehalt der „Weltbühne“ von 650 Mark hätte dazu allerdings nie gereicht, denn allein seine Wohnung in Fontainebleau kostet 300 Mark im Monat. Kurt Tucholsky muss sich also zusätzliche Verdienstmöglichkeiten erschließen. Über gute Beziehungen erhält den Auftrag für das Feuilleton der „Vossischen Zeitung“ Glossen und Beobachtungen aus Paris zu schreiben.

Kurt Tucholsky verlässt das „Gefängnis Deutschland“

Verträge mit diversen anderen Zeitungen sichern Kurt Tucholsky ein monatliches Einkommen von rund 2.000 Mark. Paris war plötzlich zum Greifen nahe. Am 6. April 1924 besteigt Kurt Tucholsky den Zug nach Paris. Das war sozusagen seine Rettung in letzter Sekunde, da sein Weltschmerz in den letzten Monaten deutlich zugenommen hatte. Erst die Aussicht auf ein Leben in Freiheit, also im Ausland, läßt seinen alten Optimismus zu ihm zurückkehren. Aufatmend verlässt er das „Gefängnis Deutschland“, das von der Inflation durchgeschüttelt wurde, um von da an nur noch als Besucher zurückzukommen.

Seine Geliebte Mary Gerold bleibt zunächst allein in Berlin zurück. Kurt Tucholsky wollte zuerst allein das Terrain erkunden und eine Wohnung suchen. Paris macht Kurt Tucholsky zu Beginn völlig euphorisch – er kann sich an der Stadt und an den Menschen nicht sattsehen. Wie ein frisch verliebter Jüngling schwärmt er von seiner neuen Liebe: „Du kannst Dir das nicht denken, was das für ein Land ist. Es ist, wie wenn es die Arme öffnet und sagt: Nimm mich – aber nicht so, wie das wohl die Tropen tun sollen, so brünstig-schwellend –, sondern ganz einfach und nett und weich.“

Topnachrichten hält Kurt Tucholsky für verderblich

Kurt Tucholsky bewundert die fröhliche, gelassene Lebensweise der Franzosen, ihre wohltuend kultivierten und natürlichen Umgangsformen. Frankreich ist ihm fast ein Idyll, ein Paradies der kleinen Leute, die so liebenswert sind. Kurt Tucholsky schreibt: „Sie denken mit dem Herzen, sie fühlen mit dem Kopf, es sind vor allen Dingen einmal Menschen.“ Er hat seine Heimat nun in Paris gefunden, eine Heimat, die er in Berlin nie so gefühlt hat. Der Kampf für die Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland und gegen die Kriegshetzerei erscheint ihm als das wichtigste Ziel seiner Arbeit.

Kurt Tucholsky bemüht sich um die unvoreingenommene Beobachtung und Darstellung seines Gastlandes, wobei ihn weniger die politischen Topnachrichten interessieren als vielmehr die kleinen alltäglichen Einzelheiten, jene Halbtöne im gesellschaftlichen Verkehr, auf die es seiner Meinung nach so sehr ankommt. Die Topnachrichten hält Kurt Tucholsky ohnehin für verderblich: „Sie sind schuld daran, dass die eine Nation die andere für einen Haufen tobsüchtig gewordener, ewig ehebrechender, halbirrer, sonderlinghafter, unter völlig desperaten Umständen lebender und mit Revolvern herumfuchtelnden Menschen hält.“ Quelle: Kurt Tucholsky von Michael Hepp

Von Hans Klumbies