Kurt Tucholsky fürchtet und verdrängt den Weltschmerz (2. Teil)

Kurt Tucholsky bekennt sich zur Lebenshaltung des produktiven Schwebezustandes, in der jede Minute des Lebens höchste Aufmerksamkeit voraussetzt, weil die ständige Beobachtung der Umwelt und ihrer Reaktionen Hand in Hand gehen muss mit der ebenso fortwährenden Regulierung der eigenen Beziehung zu ihr wie der daraus hervorgehenden Spannungen. Die so erzeugte und ständig eingehaltene Distanz vermittelt Überlegenheit, deren Preis allerdings die Tendenz zur Einsamkeit ist, der wiederum das Verlangen nach Partnerschaft und Nähe folgt. Dieser Teufelskreis ist nur ganz schwer zu durchbrechen. Franz Kafka, der Kurt Tucholsky 1911 in Prag kennenlernt, fühlt die Gespaltenheit und den Weltschmerz, vor dem sich Kurt Tucholsky so fürchtet, den er verdrängt und angeblich noch nicht spürt. Kurt Tucholsky gehört zu den ersten, die seit 1913 auf die Bücher von Franz Kafka hinweisen.

Kurt Tucholsky erkennt das Genie von Franz Kafka

Kurt Tucholsky schreibt über Franz Kafka: „Nie lässt sich der ganze Apparat völlig übersehen; in allen Büchern Kafkas gibt es solch einen ungeheuren, umständlichen, endlosen Apparat, der keine Allegorie ist, sondern Niederschlag des Lebens in einem sieghaft Wehrlosen. […] ich bin mit Max Brod der festen Meinung, dass die Zeit dieses wahren Klassikers der deutschen Prosa noch einmal kommen wird.“ Im Jahr 1913 lernt Kurt Tucholsky den Herausgeber der „Schaubühne“, Siegfried Jacobsohn, kennen, der sein Mentor und Lehrer wird.

Siegfried Jacobsohn ist besessen vom Theater und kämpft voller Leidenschaft für seine Ansichten. Die „Schaubühne“ entwickelt sich schnell zu einer Institution. Kurt Tucholsky blickt zurück: „Was im Blatt stand, das drang weit ins Land – totschweigen half nicht, kreischen half nicht, nach Motiven suchen half nicht, denn es waren keine anderen da, als nur eines: der niemals zu unterdrückende Drang, die Wahrheit zu sagen.“ Am 9. Januar 1913 erscheint Kurt Tucholskys erster Artikel in der „Schaubühne“. Bald werden in jedem Heft mindestens ein oder zwei Beiträge von ihm veröffentlicht.

Die Schauspielerporträts von Kurt Tucholsky sind von packender Intensität

Kurt Tucholsky lernt bei der „Schaubühne“ sehr schnell viel dazu. Seine Sprache wurde zielsicherer und plastischer. Es entstehen zum Beispiel Porträts von Schauspielern von einer packenden Intensität. Es handelt sich dabei um psychologische Miniaturen, die bis heute nichts von ihrer zupackenden Kraft eingebüßt haben. Kurt Tucholsky hat die Gabe, blitzschnell den Kern der Darsteller zu erfassen. Er reduziert sie und ihre Rolle auf das Wesentliche, Exemplarische – zeigt aber auch die Abgründe hinter der Fassade.

Über den Schauspieler Max Pallenberg schreibt Kurt Tucholsky zum Beispiel folgendes: „Wahrlich, diesen hat die Hölle ausgespien, aber Gott Vater gab ihm den kindlichen Sinn und die fröhliche Unachtsamkeit des Blödrians. Dieser Einzige ist imstande, wahrhaft grotesk zu sein: bis zu der Grenze, an der die Komik in Grauen umkippt. Er ist nacheinander berührend und grausam und beschränkt und giftig und von einer fast schmerzlichen Lustigkeit.“ Quelle: Kurt Tucholsky von Michael Hepp, Rowohlt Verlag, 5. Auflage 2013

Von Hans Klumbies