Amartya Sen stellt fest: „Die Freiheit, an der eigenen ethnischen Lebensweise festzuhalten, etwa was die Nahrungsgewohnheiten oder die Musik angeht, kann gerade infolge der Ausübung kultureller Freiheit die kulturelle Vielfalt einer Gesellschaft erhöhen.“ Die kulturelle Vielfalt ergibt sich in diesem Fall als unmittelbare Konsequenz aus der Wertschätzung der kulturellen Freiheit. Vielfalt kann auch für die nicht direkte Betroffenen eine positive Rolle spielen, indem sie deren Freiheit vergrößert. Eine kulturell vielfältige Gesellschaft kann für andere in dem Sinne vorteilhaft sein, dass sie aus einer großen Vielfalt von Erfahrungen schöpfen kann. Wenn es jedoch allein um die Freiheit – einschließlich der kulturellen Freiheit – geht, kann der kulturellen Vielfalt keine unbedingte Bedeutung zukommen. Amartya Sen ist Professor für Philosophie und Ökonomie an der Harvard Universität. Im Jahr 1998 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie.
Kulturelle Freiheit und Vielfalt muss nicht in jedem Fall positiv sein
Vielmehr hängt die kulturelle Vielfalt zwangsläufig von ihren kausalen Zusammenhängen mit der menschlichen Freiheit und davon ab, ob und in welchem Maße sie den Menschen hilft, eigene Entscheidungen zu treffen. Amartya Sen fügt hinzu: „Der Zusammenhang zwischen kultureller Freiheit und kultureller Vielfalt muss nämlich nicht in jedem Fall ein positiver sein. Am einfachsten käme man wohl zu kultureller Vielfalt, wenn man alle irgendwann zufällig vorhandenen kulturellen Praktiken uneingeschränkt fortsetzen würde.
Man würde in einem solchen Fall etwa Einwanderer dazu bewegen, an ihren alten, eingefahrenen Sitten und Gebräuchen festzuhalten, und würde sie direkt und indirekt davon abhalten, ihre Verhaltensmuster auch nur im Geringsten zu ändern. Amartya Sen erklärt: „Die Untergrabung der Wahlfreiheit, die damit verbunden wäre, würde uns umstandslos einer freiheitsfeindlichen Position ausliefern, die nach Mitteln und Wegen suchen würde, die Freiheit der Wahl einer anderen Lebensweise zu blockieren, nach der sich möglicherweise viele Menschen sehnen.“
Die Tyrannei des Konformismus kann die kulturelle Freiheit verletzen
Wenn es letztlich um die kulturelle Freiheit geht, kann die kulturelle Vielfalt nur von bedingtem Wert sein. Amartya Sen betont: „Der Wert der Vielfalt hängt folglich davon ab, auf welche Weise diese herbeigeführt und aufrechterhalten wird.“ Es ist offensichtlich keine Ausübung kultureller Freiheit, in eine bestimmte Kultur hineingeboren zu sein, und etwas zu bewahren, womit ein Mensch qua Geburt gekennzeichnet ist, kann an sich kaum als Ausübung von Freiheit gelten.
Nichts kann im Namen der Freiheit gerechtfertigt sein, wenn die Menschen nicht die Gelegenheit haben, diese Freiheit tatsächlich auszuüben. Amartya Sen ergänzt: „Zumindest muss sorgfältig abgewogen werden, wie eine Wahlmöglichkeit ausgeübt würde, wenn sie denn bestünde. So wie kulturelle Freiheit durch soziale Unterdrückung verwehrt werden kann, so kann die Freiheit auch durch die Tyrannei des Konformismus verletzt werden, die es Mitgliedern einer Gemeinschaft erschwert, sich für andere Lebensweisen zu entscheiden.“ Quelle: „Die Identitätsfalle“ von Amartya Sen
Von Hans Klumbies