Vielen Menschen fehlt es an Muße und an Bildung

Es ist paradox: Obwohl der moderne Mensch aufgrund seiner hohen Produktivität, durch unzählige raffinierte und zunehmend intelligente Technologien unterstützt, mehr Zeit frei von den Zwängen unmittelbarer Erwerbstätigkeit verbringen könnte, macht er den Eindruck eines gehetzten Tieres. Der moderne Mensch muss ständig in Bewegung sein, darf nie innehalten, kann keinen Stillstand dulden, ist hilflos dem Beschleunigungstaumel einer Entwicklung ausgesetzt, die er weder kontrolliert, noch wirklich versteht. Konrad Paul Liessmann ergänzt: „Das ständig präsente Gefühl, von Märkten, Innovationen, vom Wettbewerb und der Konkurrenz getrieben zu sein, die Angst, sofort zurückzubleiben und alles zu verlieren, gönnte man sich nur eine Pause, die fatalistische Vorstellung, dass man nicht der Gestalter der Zukunft sei, sondern nur auf die Herausforderungen reagieren könne […] – all dies sabotiert jeden Gedanken an Phasen der Ruhe und der Besinnung.“ Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien und arbeitet zudem als Essayist und Publizist.

In der Antike war die Arbeit als Negation der Muße definiert

Wohl kennt auch der moderne Mensch die eine oder andere Unterbrechung dieser Dynamik, die Freizeit und den Urlaub, aber auch diese Zeit muss analog der Arbeitszeit effizient genutzt, verplant, mit möglichst vielen Events gefüllt und am besten mit Aktivitäten kombiniert werden, die seine Arbeitskraft stärken und seine individuelle Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Es mangelt vielen Menschen weniger an Zeiten, über die sie souverän verfügen könnten, es mangelt ihnen eher an der Fähigkeit, diese Zeiten anders zu strukturieren als nach jenen Parametern, die auch das Berufsleben und die Wettbewerbsgesellschaft insgesamt steuern.

Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Es fehlt uns an dem, was die Alten Muße genannt haben.“ Das altgriechische Wort für Muße war „scholé“, von dem sich auch das Wort „Schule“ ableitet. Es bezeichnete ursprünglich die Stätte, an der man sich aufhielt, wenn man nicht arbeiten musste. Die Antike sah in dieser Muße die entscheidende und erstrebenswerte Weise des Daseins überhaupt, die Arbeit hingegen als das, was eigentlich vermieden werden sollte. Arbeit war definiert als Negation der Muße: „ascholia“.

In der Antike diente die Muße der Schönheit und der Erotik

Die Muße in der Antike war allerdings alles andere als ein Nichtstun. Sie war keine leere Zeit, die mit Unterhaltungen und Zerstreuungen aller Art gefüllt werden musste, sondern die Zeit, über die man frei verfügte und die man konzentriert den Dingen des Lebens widmen konnte, die ihren Wert in sich trugen und nicht Mittel für einen Zweck waren: Schönheit, Erkennen, Freundschaft, Erotik. Erst die Moderne machte aus der Arbeit eine Tugend und aus dem Müßiggang den Anfang aller Laster. Friedrich Nietzsche hat dies als erster erkannt und präzise beschrieben.

Im 329. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft“ notierte Friedrich Nietzsche unter dem Stichwort „Muße und Müßiggang“: „Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie Einer, der fortwährend etwas >versäumen könnte<. […] Das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen, Überlisten oder Zuvorkommen.“ Quelle: „Bildung als Provokation“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies