Eine Schilderung des Zustandes, in den die Welt durch den dynamisierten und globalisierten Kapitalismus des letzten Jahrhunderts geraten ist, formuliert Konrad Paul Liessmann wie folgt: „Der globalisierte Kapitalismus produziert Wunderwerke aller Arten, gleichzeitig aber Verarmung und unvorstellbares Elend für diejenigen, die in den Industriezonen Ostasiens und anderer Weltteile diese Wunderwerke schaffen.“ Der globale Kapitalismus schafft ungeheuren Reichtum für wenige und bisher kaum bekannten Wohlstand für einige privilegierte Regionen der Erde, er verschärft aber auch in ebenfalls ungeahnter Weise den globalen und lokalen Gegensatz zwischen Arm und Reich. Der globalisierte Kapitalismus schafft atemberaubende Schönheit in kühner Architektur, er führt aber auch zu einer zunehmenden Verhässlichung und Verödung. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.
Die Lebenschancen sind nicht gerecht verteilt
Die Innovationen des modernen Kapitalismus erlauben es, immer mehr ehemals durch menschliche Arbeit erledigte Tätigkeiten zu automatisieren und durch digitale Maschinen erledigen zu lassen, ohne dass die Menschen jedoch das Gefühl hätten, dadurch in irgendeiner Weise vom Druck der Arbeit befreit zu werden. Ganz im Gegenteil: Immer mehr Menschen leiden darunter, diesen Maschinen ausgeliefert zu sein – wie smart diese sich auch geben mögen. Der dynamisierte Kapitalismus entfaltet vor allem im Bereich der Naturwissenschaften und ihrer Anwendungen ungeheuer beschleunigte Fortschritte der Erkenntnis.
Konrad Paul Liessmann stellt fest: „Wir sind weit davon entfernt, in einer Welt zu leben, in der die Lebenschancen und Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen einigermaßen gerecht und human verteilt wären.“ Der deutsch-englische Soziologe Ralf Dahrendorf hatte in seinem im Jahre 1983 erschienen Buch „Die Chance der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus“ Folgendes dekretiert: „In seinen besten Möglichkeiten war das [zwanzigste] Jahrhundert sozial und demokratisch. An seinem Ende sind wir (fast) alle Sozialdemokraten geworden.“
Ohne Staat geht fast gar nichts
Ralf Dahrendorf fährt fort: „Wir haben alle ein paar Vorstellungen in uns aufgenommen und um uns herum zur Selbstverständlichkeit werden lassen, die das Thema des sozialdemokratischen Jahrhunderts definieren: Wachstum, Gleichheit, Arbeit, Vernunft, Staat, Internationalismus.“ Dreißig Jahre später hat sich keines der damals genannten Themen erledigt. Wachstum ist gleichermaßen zum Fetisch wie zum mittlerweile höchst umstrittenen Grenzwert der Gegenwart geworden. Gleichheit ist leider keine Selbstverständlichkeit mehr.
Heute weiß man: Ohne Staat geht (fast) gar nichts, aber welche Form dieser Staat annehmen wird, wie sich Staat und Demokratie im nationalen und europäischen Kontext zueinander verhalten, ist eine der brennenden Fragen unserer Zeit. Laut dem britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch entwickeln sich die Gemeinwesen in Richtung nachdemokratischer Strukturen, in denen zwar Wahlen abgehalten werden, der Wahlkampf selbst aber zu einem reinen Spektakel verkommt, indem professionelle PR-Experten miteinander konkurrieren. Quelle: „Bildung als Provokation“ von Konrad Paul Liessmann
Von Hans Klumbies