Rettung und Gefahr gehen in Europa fließend ineinander über

Konrad Paul Liessmann stellt sich die Frage, ob sich das europäische Projekt durch folgende Formulierung beschreiben ließe: „Eine fließende Grenze zwischen Rettung und Gefahr.“ Seiner Meinung nach lässt sich zurzeit nirgendwo das Wechselspiel zwischen Grenzaufhebung, Grenzüberschreitung und Grenzziehung so gut studieren wie in Europa. Das Projekt der Europäischen Union lebt laut Konrad Paul Ließmann in hohem Maße vom Pathos der gefallenen und fallenden Grenzen, andererseits wird allmählich aber deutlich, dass dieses Projekt nur eine politische Zukunft hat, wenn Grenzen gezogen werden. Er erklärt: „Die Bedeutungslosigkeit alter europäischer Binnengrenzen korrespondiert so nachdrücklich mit der für viele so unüberwindlichen Schranke, die durch die Schengen-Grenze aufgerichtet ist.“ Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie der Universität Wien. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen „Die Theorie der Unbildung“ und „Das Universum der Dinge.“

Die europäische Gemeinschaft ist über Werte und Grenzen definiert

Wer immer eine Antwort auf die Frage nach der Identität Europas geben will, kommt nicht umhin, anzugeben, was Europa nicht ist. Davon ist Konrad Paul Liessmann fest überzeugt. Die Frage nach den Grenzen und damit nach der Identität Europas ist seiner Meinung nach nur über eine politische Willensbildung zu erreichen. Konrad Paul Liessmann ergänzt: „Europa lässt sich nur voluntaristisch bestimmen. Europa wird das sein, was es unter gegebenen Umständen sein will.“

Der Frage nach den politischen Grenzen Europas entzieht man sich laut Konrad Paul Liessmann in der Regel durch den Verweis auf die Idee einer europäischen Gemeinschaft, die, wenn überhaupt, nur unscharfe, flexible und ausgeblendete Grenzen kennt und sich lieber über gemeinsame Werte und Grenzen definiert. Dazu braucht Europa allerdings neben der Zentralbank auch eine europäische Seele, die Europäer sollen sich als Angehörige einer größeren Gemeinschaft fühlen.

Funktionierende Gemeinschaften müssen nicht ständig beschworen werden

Allen Erscheinungsformen von Gemeinschaft haben für Konrad Paul Liessmann eine Gemeinsamkeit: Die Kommunikation ihrer Mitglieder erfolgt nicht über Vereinbarungen, Tauschakte oder Verträge, sondern im Idealfall durch ein stillschweigendes Verständnis. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Wer in einer Gemeinschaft lebt, weiß immer schon, worum es geht. Gemeinschaften müssen sich ihren Mitgliedern nicht ständig erklären, funktionierende Gemeinschaften müssen auch nicht ständig beschworen werden.“

Voraussetzung dieser Gemeinschaft des Verstehens ist die gemeinsame Sprache, die das schweigende Einverständnis für Konrad Paul Liessmann überhaupt erst ermöglicht. Er zitiert den deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies, der dem organischen Gebilde der Gemeinschaft das künstliche Gebilde der Gesellschaft gegenüberstellt. Ferdinand Tönnies sieht in der Gemeinschaft den Ort der Ver- und Gebundenheit, während er die Gesellschaft als den Ort der Freiheit definiert. Konrad Paul Liessmann kommt zu dem Schluss, dass alles, was tatsächlich gemeinschaftsbildend wirken könnte, in der Europäischen Union entweder ein Ding der Unmöglichkeit oder tabuisiert ist.

Von Hans Klumbies