Der Begriff der Mündigkeit spielt heute keine Rolle mehr

Bildung hatte schon immer zwei Seiten: die Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen und die Ansprüche der Gesellschaft. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Bildung bedeutet die Steigerung individueller Entfaltungsmöglichkeiten und die Aneignung jener Kenntnisse, Techniken, Traditionen und Fähigkeiten, die eine Gesellschaft für wichtig und verbindlich erachtet.“ Geht dieser Zusammenhang verloren, befindet sich die Bildungssysteme in einer Krise. Die Individualisierung im Bildungsprozess meint folgendes: dass der Einzelne in Auseinandersetzung mit sich und der Welt, mit dem Wissen und der Kultur erfährt, was er und wie er in dieser Welt sein kann. Mündigkeit nannte man dieses Ziel eines bildenden Prozesses der Selbstgewinnung einmal, ein Begriff, der heute keine Rolle mehr spielt. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Friedrich Nietzsche erkennt den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung

Es war Friedrich Nietzsche, der erkannt hat, dass die Forderung nach einer Bildung für alle, die kein Kind zurücklassen muss, nur in der Schulung jener Kompetenzen bestehen kann, die für den Wettbewerb fit machen, nicht aber in der Vermittlung einer Bildung, die individuell in dem Sinn wäre, dass deren Ziele nicht für jeden erstrebenswert und erreichbar sein müssen. Nur die Orientierung am Nützlichen, nicht etwa die am Musischen oder Geistigen erlaubt diese Universalisierung des Bildungsanspruches.

Friedrich Nietzsche schreibt: „Ich glaube bemerkt zu haben, von welcher Seite aus der Ruf nach möglichster Erweiterung und Ausbreitung der Bildung am deutlichsten erschallt. Diese Erweiterung gehört unter die beliebten national-ökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntnis und Bildung – daher möglichst viel Produktion und Bedürfnis – daher möglichst viel Glück – so lautet etwa die Formel. Hier haben wir den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst großen Geldgewinn.“

Die wahre Bildung darf keine Herkunft kennen

Friedrich Nietzsche fährt fort: „Jede Bildung ist hier verhasst, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht […]. Dem Menschen wird nur so viel Kultur gestattet als im Interesse des Erwerbs ist, aber so viel wird auch von ihm gefordert.“ An dieser Einsicht hat sich laut Konrad Paul Liessmann bis heute wenig geändert. Besser können die Beweggründe für die Orientierung an Kompetenzen und Steigerung der Effizienz im Bildungswesen nicht formuliert werden.

Die wahre Bildung darf keine Herkunft kennen. Denn Bildung in einem unverkürzten Sinn lebt wesentlich von der Vergangenheit, vom Wissen, den Technologien, den Kunstwerken, den Religionen und Weltanschauungen, den Literaturen, die von Menschen hervorgebracht wurden und auf denen Menschen aufbauen und an denen sie weiterarbeiten können. Diese Errungenschaften waren und sind aber nicht gleichmäßig über alle verteilt, und natürlich spielt dafür die Herkunft eine Rolle. Quelle: „Bildung als Provokation“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies