Literarische Bildung war immer schon umstritten

Literarische Bildung, die einst im Zentrum der Curricula der höheren Schulen stand, ist – und leider nicht nur dort – zu einem Fremdwort geworden. Dass aber nahezu jede Form vor allem ästhetischer, literarischer oder sprachlich-historischer Kenntnisse gerne als bildungsbürgerlich denunziert wird, gilt nicht nur der Kritik an einem sozialen Habitus, sondern auch einer bestimmten Idee von Bildung. Konrad Paul Liessmann fügt hinzu: „Die schöne Literatur, wie avanciert auch immer, führt nur noch ein Schattendasein in den Curricula, in den Bildungsdiskursen, in denen es von Kompetenzen nur so wimmelt, spielt sie keine Rolle mehr.“ Allerdings bestreitet fast niemand, dass die Literatur für denjenigen, der in ihr eine Inspiration zu sehen vermag, eine beglückende Erfahrung sein kann. Konrad Paul Liessmann ist Professor am Institut für Philosophie der Universität Wien.

Belesenheit war und ist eine Provokation

Literarische Bildung war immer schon umstritten. Andererseits war der literarisch versierte Mensch nicht nur einer, der in einem bestimmten Segment kultureller Produktion exzellente Kenntnisse aufwies, sondern er galt auch in einem exemplarischen Sinn als gebildet. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Belesenheit war einmal nahezu ein Synonym für einen avancierten Bildungsanspruch, und dieser wiederum forderte geradezu ein Nahverhältnis zu ganz bestimmten Büchern und Texten.“ Belesenheit erschöpfte sich gerade nicht in einer wie immer ausgereiften und artikulierenden Kompetenz der Texterschließung, sondern verblüffte immer wieder damit, was alles gelesen worden war.

Belesenheit war und ist deshalb eine Provokation. Sie verweist auf ein Privileg: dass es Menschen gibt, die die Zeit haben, sich intensiv mit literarischen Texten zu beschäftigen, ohne dass sie dadurch im Alltag oder in ihrem beruflichem Umfeld wesentlich gewönnen. Jenseits der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Literatur besteht die Herausforderung der Belesenheit auch im Anspruch einer bestimmten Quantität. Denn nach der Lektüre von fünf Romanen und drei Kurzgeschichten ist noch niemand belesen.

Bücher verändern einen Gebildeten

Zur Belesenheit gehört die stillschweigende Annahme, dass es nicht beliebige Texte, sondern bestimmte Texte sein müssen. Auch wer alle Romane von Karl May oder Joanne K. Rowling gelesen hat, wird nicht als belesen gelten, auch wenn Belesenheit die Lektüre dieser Autoren nicht ausschließt. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Wer es versteht, Winnetou mit Hegel zu verbinden oder Harry Potter mit Martin Heidegger in eine kritische Beziehung zu setzen, kommt der Idee von Belesenheit vielleicht schon näher.“

Diese selbst aber zehrt von dem Gedanken, dass es Bücher gibt, ohne die die Welt und damit die auf ihr lebenden Menschen in jeder Hinsicht ärmer wären. Eine Überlegung des Berliner Philosophen Peter Bieri, der unter dem Pseudonym Pascal Mercier auch einige erfolgreiche Romane wie „Nachtzug nach Lissabon“ geschrieben hat, mag dies verdeutlichen: „Der Gebildete ist ein Leser. Doch es reicht nicht, ein Bücherwurm und Vielwisser zu sein. Es gibt – so paradox es klingt – den ungebildeten Gelehrten. Der Unterschied: Der Gebildete weiß Bücher so zu lesen, dass sie ihn verändern.“ Quelle: „Bildung als Provokation“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies

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