Der Naturmensch war schon immer eine Fiktion

Konrad Paul Liessmann stimmt der Aussage zu: „Der Naturmensch war immer schon eine Fiktion. Für den Menschen war seine eigene Natur nur das Ausgangsmaterial, das es erst zu gestalten galt.“ Eine prekäre Radikalisierung erfuhr dieser Sachverhalt durch die Überlegung, dass es nicht darum gehen sollte, den Menschen nach ethischen und ästhetischen Überlegungen zu formen, sondern zu verbessern. Dieser Gedanke hat die Einsicht in das Ungenügen des Vorhandenen ebenso zur Voraussetzung wie die normative Vorstellung, an der sich die nun einsetzenden Programme der Optimierung orientieren können. Das Konzept des „neuen Menschen“, der einen alten hinter sich lassen sollte, ist christlichen Ursprungs. Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Der Begriff „Übermensch“ ist christlichen Ursprungs

Konrad Paul Liessmann erklärt: „Im Christentum taucht die Idee der Menscherneuerung in aller Deutlichkeit auf. Wenngleich noch gedacht als spirituelles Erlösungsprogramm.“ Das dies zu einer rasanten Weiterentwicklung von Konzepten zur Selbstveränderung führte, zeigen nicht zuletzt die Innovationen auf dem Gebiet der Selbstdisziplinierung. Diese schreibt etwa ein mönchisches Leben vor, von der Kasteiung bis zu den Techniken der Meditation der Mystiker. Die Kultur des Pietismus propagierte permanente Selbstbeobachtung und Selbstdisziplinierung.

Diese Kultur des Pietismus bereitete den Boden für die Strategien der Selbstoptimierung. Diese kennzeichnet nicht nur die Gesundheits- und Schönheitsindustrie unserer Tage, sondern auch die Orientierung auf Kompetenz im Bildungsbereich. Selbst der umstrittene Begriff des „Übermenschen“ aus Friedrich Nietzsches „Zarathustra“ ist christlichen Ursprungs. Er wurde in der Reformationszeit geprägt. Denn er findet sich bei Martin Luther und wurde zu einem beliebten Terminus in de pietistischen Erweckungsliteratur.

Alle Utopien der Neuzeit kreieren einen neuen Menschen

Die Idee des neuen Menschen entfaltete allerdings erst in ihrer säkularisierten Gestalt ihre ganze Sprengkraft. Konrad Paul Liessmann erläutert: „Die Utopien der Neuzeit wollten samt und sonders den neuen Menschen kreieren. Nun nicht mehr als Resultat einer inneren Anstrengung, sondern als Produkt einer zivilisationstechnischen Revolution. Diese wollte von allem Anfang an auch die Reproduktion des Menschen aus den Klauen des Zufalls befreien.“ Der neue Mensch gehörte zum Beispiel zum Standardrepertoire marxistischer und kommunistischer Wunschvorstellungen.

Das entscheidende Novum in der Selbstansicht des modernen Menschen lautet: „So, wie wir sind, sind wir nicht gut genug.“ Aber, und dies gehört notwendig zu diesem Bilde: Jeder kann sich verbessern. Dies unterscheidet sich dramatisch von der klassischen Konzeption, die den Menschen im Rahmen seiner Bedingtheiten frei in seinem Handeln sehen wollte. Die Aufforderung, das Gute zu tun, ist etwas anderes als der Imperativ der Selbstoptimierung. Alle Bilder, die der Mensch seitdem von sich macht, sind nicht mehr in erster Linie dem Anspruch der Selbsterkenntnis verpflichtet. Quelle: „Neue Menschen!“ von Konrad Paul Liessmann (Hrsg.)

Von Hans Klumbies