Lesen und Schreiben sind grundlegende Kulturtechniken

Bücher können zu Begleitern, zu Freuden, aber auch zu Feinden werden. Bücher, die man über die Jahre hin ansammelt, sind Ausdruck einer intellektuellen Biographie und der dazugehörigen Zeitgeister. An diesen Büchern lässt sich mehr ablesen als in so manch geschönter Kulturgeschichte. Konrad Paul Liessmann schreibt: „Solches Wissen, solche Erfahrungen, solche Erinnerungen wird keine digitale Bibliothek der Welt bieten können.“ Digitale Bibliotheken, auf welchem Speichermedium sie auch immer archiviert, bieten etwas anderes: den nahezu unbeschränkten raschen Zugriff auf die Welt der Texte. Konrad Paul Liessmann rät, diese Tatsache nicht gering zu schätzen, denn das sei durchaus verlockend, ja faszinierend! Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Philosophicum Lech.

Virtuelle Bibliotheken bieten unbeschränkten Zugriff auf Texte

Das mit den großen virtuellen Buchhandlungen verbundene Lesegerät verschafft den Menschen tatsächlich das Gefühl der Allmacht über das Geschriebene. Nahezu alles steht jederzeit überall zur Verfügung. Das kann schon zu einer neuen Leselust führen. Aber Konrad Paul Liessmann gibt zu bedenken: „ Das Gefühl, über eine Bibliothek zu verfügen und sich in dieser zu bewegen, will und will sich nicht einstellen. Und vor allem: Wir verlernen es zu warten. Was nicht sofort auf Knopfdruck da ist, ist gar nicht mehr da.“

Konrad Paul Liessmann vermutet, dass dieser Zugriff auf die Welt digitalisierter Texte nur der nützen und genießen wird, der auch ein Bewohner der Buchwelt ist. Lesen und Schreiben sind keine Tätigkeiten, die man einmal lernt, jahrzehntelang brachliegen lassen und trotzdem bei jeder Gelegenheit reaktivieren kann. Wer nicht ständig liest, verlernt das Lesen wieder. Und: Wer für Schicksale, Geschichten, Tragödien und Komödien der Literatur keinen Enthusiasmus entwickeln kann, wird Lesen letztlich als Zumutung empfinden.

Der geschriebene Text stachelt die Phantasie an

Wer nicht das Buch als physisches Objekt lieben und hassen gelernt hat, wird nie richtig lesen lernen. Konrad Paul Liessmann klagt an: „In der generellen didaktischen Missachtung des Buches zeigt sich die Praxis der Unbildung in ihrer erbärmlichsten Gestalt.“ Dabei sind Lesen und Schreiben Kulturtechniken, deren grundlegende Beherrschung unerlässlich ist. Deshalb ist es wichtig, all jene, die Schwierigkeiten beim Erwerb dieser Fähigkeiten haben, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen, damit sie wirklich lesen und schreiben lernen.

Dazu braucht man wahrscheinlich keine Reformen und weniger moderne Didaktik als vermutet. Konrad Paul Liessmann betont: „Dann aber hängt alles davon ab, im geschriebenen Text nicht trotzt, sondern wegen seiner Linearität, seiner die Phantasie anstachelnden Kargheit, seiner nur vordergründigen Sinnenfeindlichkeit ein nach wie vor herausragendes Medium der Verständigung, der Selbstreflexion und der ästhetischen Lust zu erblicken, das einen zentralen Stellenwert in jedem Bildungsprozess einnehmen kann und einnehmen soll.“ Quelle: „Geisterstunde“ von Konrad Paul Liessmann

Von Hans Klumbies