Das Mitternachtslied übt eine enorme Sogkraft aus

Konrad Paul Liessmann holt in seinem Buch „Alle Lust will Ewigkeit“ die zentralen Fragen aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ in die Gegenwart. Der deutsche Philosoph verfasste das vierteilige Werk zwischen 1882 und 1885. Die Figur des Zarathustra erscheint nicht nur als Verkünder großer Wahrheiten. Sondern sie agiert auch als Philosoph, der sich radikal einer skeptischen Selbstvergewisserung aussetzt. Zarathustras zentrale Erkenntnisse sind seine Lehren vom Übermenschen und von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Sie stoßen allerdings bei den Menschen auf taube Ohren. Konrad Paul Liessmann widmet jeder Zeile des „Mitternachtsliedes“ ein Kapitel. Dabei überlässt er sich der Sogkraft dieser Verse, die gerade in ihrer Schlichtheit raffiniert, in ihrer Redundanz unvergleichlich und in ihrer Zerbrechlichkeit voller Kraft sind. Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Universität Wien. Zudem arbeitet er als Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Im Zsolnay-Verlag gibt er die Reihe „Philosophicum Lech“ heraus.

Lust und Weh haben einen doppeldeutigen Charakter

Friedrich Nietzsches „Mitternachtslied“ aus „Also sprach Zarathustra“ beginnt mit einer eindringlichen Anrufung: „Oh Mensch! Gieb Acht!“ Dieser Anfang stellt ein Rätsel dar. Möglicherweise singt Zarathustra das „Mitternachtslied“ für seine Weggefährten und erläutert es ihnen dabei. Zarathustra fordert sie auf, mit ihm durch die Nacht zu wandeln. Und in der Nacht ist Achtsamkeit ratsam, um in der Dunkelheit keinen Fehltritt zu tun. Es herrscht dabei eine Haltung der gespannten Aufmerksamkeit und Erwartung.

Die zweite Zeile „Was spricht die tiefe Mitternacht?“ spricht den Menschen nicht nur in all seiner Vielgestaltigkeit und Unbestimmtheit an. Konrad Paul Liessmann erklärt: „Die Stimme der Mitternacht verspricht Auskunft über die existenzielle Befindlichkeit, über die individuellen Nöte des Menschen.“ Die Mitternachtsglocke präludiert die Doppeldeutigkeit von Herz und Schmerz, von Lust und Weh, die das Gedicht thematisch zentral durchzieht. Verglichen mit dem eigenen Inneren ist nahezu alles andere auf der Welt harmlos.

Keine Lust ist ewig

Doch alle Lust will Ewigkeit. Der zehnte Glockenschlag bringt einen gleichermaßen zentralen wie umstrittenen Begriff Friedrich Nietzsches zum mystischen Erklingen: Ewigkeit. Zumindest als Formel ist seine Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen noch immer gegenwärtig, nahezu ins Alltagsbewusstsein abgesunken. Im Ewigkeitsanspruch der Lust dagegen steckt der Wille, sich nicht mit dem Üblichen abzufinden. Gleichzeitig findet dieser Wille an der Realität immer seinen Meister. Keine Lust ist ewig, alles endet in Erschöpfung.

Friedrich Nietzsches „Mitternachtslied“ hat deutliche Spuren hinterlassen, vor allem in der Musik. Kaum ein deutschsprachiges Gedicht wurde so oft vertont. Ohne Ende ist auch das Leben des „Mitternachtslieds“ im World Wide Web. Und da nichts im Netz verlorengeht, ist für die Ewigkeit dieser Anrufungen der Ewigkeit zumindest für einige Zeit gesorgt. Friedrich Nietzsche hatte nicht ahnen können, was es heißt, dem Vergessen wirklich entrissen zu sein und unwiderruflich in den Datenwolken sein Unwesen zu treiben. Im Geiste Friedrich Nietzsches kann man in einem verwirrenden Zeitalter dennoch auf folgenden Text beharren: „Unsere Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

Alle Lust will Ewigkeit
Mitternächtliche Versuchungen
Konrad Paul Liessmann
Verlag: Zsolnay
Gebundene Ausgabe: 317 Seiten, Auflage: 2021
ISBN: 978-3-552-07207-7, 26,00 Euro

Von Hans Klumbies