Kollektive Identitäten sind soziale Konstruktionen, können sich also wandeln. Sie sind jedoch ein zweischneidiges Schwert. Joachim Bauer erläutert: „Einerseits sind sie eine unvermeidliche Ergänzung der jeweils individuellen Identität eines Menschen. Sie gegen den in einer Identität vereinten Menschen, vor allem in Zeiten der Not, in Krisen oder Katastrophensituationen, ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sicherheit.“ Andererseits bergen kollektive Identitäten die Gefahr, dass Menschen sich gegenseitig nicht mehr als menschliche Individuen wahrnehmen, sondern andere Menschen – und sich selbst gleich mit – kategorisieren, also „in eine Schublade stecken“. Andere Menschen nur aufgrund ihrer kollektiven Identität wahrzunehmen kann einerseits zu – allerdings oft auch fragwürdigen – Freundschaften oder Bündnissen, andererseits aber auch zu Feindschaften und Hass führen. Prof. Dr. Med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt.
Die Eliten huldigen einem radikalen Individualismus
Konflikte zwischen Menschen unterschiedlicher Gruppenidentitäten können eskalieren und in wechselseitige Dehumanisierung ausarten. Joachim Bauer stellt fest: „Bei den intellektuellen Eliten stehen Gruppenidentitäten nicht hoch im Kurs.“ Wem das Privileg einer guten Ausbildung vergönnt war, wer einen qualifizierten Beruf ausübt, sich auf internationalem Parkett bewegen kann und kulturaffin orientiert ist, zählt – in den Worten des Soziologen Andreas Reckwitz – zur „Gesellschaft der Singularitäten“, die einem radikalen Individualismus huldigt.
Den Bildungseliten steht in den westlichen Ländern allerdings eine Mehrheit der Bevölkerung gegenüber, der Gruppenidentitäten viel bedeuten. Joachim Bauer erklärt: „Kollektive Identitäten können sich für die nicht zur Elite zählende, „normale“ Menschen aufgrund von traditionellen Zugehörigkeiten ergeben – zum Beispiel durch die Zugehörigkeit zu einer Schule, einem Betrieb, einer Kirchengemeinde oder Dorfeinwohnerschaft, zur Fangemeinde eines Fußballclubs, zu einem Verein oder Partei und Ähnliches.“ Eine Gruppenidentität kann sich aber auch aus der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich benachteiligten, bedrohten oder sich bedroht fühlenden Gruppe ergeben.
Kollektive Identitäten sind natürliche Tatsachen
Zu diesen Gruppen zählen beispielsweise ethnische Minderheiten, Migranten oder angefeindete Religionen. Ohne eine als hinreichend tragfähig erlebte soziale Identität fühlen sich nicht zur Elite zählende Menschen in unseren heutigen anonymen Gesellschaften wie ein einem Niemandsland. Joachim Bauer ergänzt: „Sie werden dann anfällig für die Angebote „identitärer“, meistens aus dem politisch rechten Spektrum stammenden Gruppen, die sich Heimatverbundenheit, Vaterlandsliebe und nationalistisches oder rassistisches Gedankengut auf die Fahnen geschrieben haben.“
Gruppenzugehörigkeit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Gruppen, die sich eine Identität teilen, dienen denen, die zu ihr gehören, als empathische Intensivstationen. Joachim Bauer weiß: „Kollektive Identitäten sind also natürliche Tatsachen, sie helfen dem Menschen, mit den Schwierigkeiten des Lebens zurechtzukommen, sie gehören zum anthropologischen Inventar und sind Teil der Conditio humana.“ Keineswegs natürlich begründet, sondern sozial konstruiert sind jedoch die Inhalte, für die sie stehen. Quelle: „Fühlen, was die Welt fühlt“ von Joachim Bauer
Von Hans Klumbies