Die Sprache prägt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe

Ein Exkurs schweift von der Hauptroute ab, aber so, dass auf dem Umweg geistige Heuer eingefahren werden kann. Der ausgelassene Bruder des akademischen Exkurses ist der Schlenkerer. Karl-Markus Gauß erläutert: „Er ist kein überlegtes Abschweifen vom geraden Weg, sondern ein Abschweifen aus reiner Lust und Laune.“ In der Sprache erfahren Menschen als Erstes die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, und in der Sprache wird diese später täglich erlebt. Aber das Sprechen selbst ist nicht der wichtigste Akt, mit dem sich ihnen diese Zugehörigkeit erweist. Wichtiger als das tatsächliche Sprachvermögen ist die soziale Sprach-Erinnerung: an das Leid, den Mut, die Arbeit, die Hoffnungen der Vorfahren. Karl-Markus Gauß lebt als Autor und Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ in Salzburg. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet.

Karl-Markus Gauß tritt für ein Europa der Muttersprachen ein

Solche Erinnerung ist wichtig, aber man muss ihr wie jeder Erinnerung mit Skepsis begegnen. Die „Sozialistischen Frauen Österreichs“ empfehlen, anstelle von „Muttersprache“ künftig von der „Erstsprache“ eines Menschen zu sprechen. Sie möchten die Frau nicht auf die Mutterrolle festlegen, und darum wollen sie die Mutter aus der Sprache entfernen. Das eine ist verständlich, das andere blöde. Um die Mütter aus den Muttersprachen zu bekommen, mindern sie den Wert einer Sprache für das selbstbewusste Leben des Menschen auf das Zählsystem herunter.

Karl-Markus Gauß kritisiert: „Aus Ausgleich dafür soll das ohnedies unangenehm kriegerische „Vaterland“ zum Erstland heruntergestuft werden.“ Karl-Markus Gauß trat einst als einer der Ersten mit der plakativen Losung an: „Für ein Europa der Muttersprachen, nicht der Vaterländer.“ Mit den Erstsprachen und Erstländern heißt es nun: Der Mensch muss zur Nummer werden, um frei zu sein. In einem fiktiven Wörterbuch heißt es: Als „Reform“ bezeichnet man heute den zielgerichteten Versuch, eine Sache zu verschlechtern.

Jede Sprache bildet eine neue Welt

Eine Rentenreform hat sich beispielsweise bewährt, wenn den Pensionisten danach weniger Geld zur Verfügung steht oder wenn die Zahl der Anspruchsberechtigten gesunken ist. Die Schulreform hat dafür zu sorgen, dass den Lehrern die Freude am Unterrichten vergeht und die Schüler über das Nötige hinaus verblöden. Und nach der nächsten Wahrreform werden junge Mitbürger wählen dürfen, sobald sie die Kompetenz erworben haben, auf einem Tablet herumzuwischen.

Vielsprachigkeit war früher ein Vorrecht der Privilegierten, des Aristokraten, der mit seinesgleichen in mehreren Sprachen parlierte. Es war die Ausnahmestellung des Bildungsbürgers, der sich im Wissen, dass jede Sprache eine neue Welt bildet, eifrig und neugierig daranmachte, sich möglichst viele dieser Welten anzuordnen. Karl-Markus Gauß stellt fest: „Heute beherrschen die Herrschenden außer ihrer Erstsprache nur mehr eine weitere Sprache, das Englische.“ Quelle: „Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ von Karl-Markus Gauß

Von Hans Klumbies

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