Der Mensch kann von illusionären Erinnerungen getäuscht werden

In einem bahnbrechenden Aufsatz aus dem Jahr 1975 prägten John Flavell und Henry Wellman von der Minnesota University „Metagedächtnis“ (metamemory), um auf eine wichtige Fähigkeit hinzuweisen, mit der alle Menschen ausgestattet sind und die bei der Selbstkorrektur des Gedächtnisses eine entscheidende Rolle spielt. Julia Shaw erklärt: „Unter Metagedächtnis versteht man, dass das Individuum wahrnimmt und weiß, dass es ein Gedächtnis hat. Dazu gehört auch unser Wissen um unsere Erinnerungsfähigkeit und ein Verständnis für Strategien, die unser Gedächtnis verbessern können. Und es umfasst unsere Fähigkeit, zu überwachen, woran wir uns korrekt erinnern können, und unsere Erinnerungen zu analysieren, um ihre Plausibilität zu bestätigen.“ Wenn man sich also selbst auf die Schliche kommt und merkt, dass eine der persönlichen Erinnerungen falsch ist, dann nutzt man sein Metagedächtnis. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.

Die meisten Menschen stellen ihr Gedächtnis nicht infrage

Normalerweise erlaubt das Metagedächtnis auch, zu unterscheiden, was man sich nur vorgestellt, was man beobachtet und was man tatsächlich als Beteiligter erlebt hat. Allerdings kann diese Fähigkeit gekapert werden, sodass illusionäre Erinnerungen entstehen. Julia Shaw erläutert: „Ohne ein Metagedächtnis, das uns hilft, die Verlässlichkeit unserer Erinnerungen zu überprüfen, die Plausibilität unserer Erinnerungen abzuschätzen und ganz allgemein die Fähigkeiten unseres Gedächtnisses zu beurteilen, würden wir ständig irgendwo zwischen Realität und Imagination schweben.“

Das Metagedächtnis ist der Grund dafür, dass gesunde Erwachsene nicht immer denken, was sie sich vorstellen, sei auch wahr, und dass sie normalerweise ziemlich genau wissen, was sie erlebt haben und was nicht. Manchmal kommt die Erkenntnis, dass etwas nicht stattgefunden haben kann, nur im Lichte neuer Beweise zustande, die den bisherigen persönlichen Überzeugungen widersprechen. Meistens stellen Menschen ihr Gedächtnis aber nicht infrage, sodass das Metagedächtnis dann nicht auf der Hut ist und Elemente aus der Phantasie durchrutschen lässt.

Das Metagedächtnis unterscheiden zwischen Fakten und Fiktion

In diesen Fällen kann man erst dann, wenn man sein Metagedächtnis wieder aktiv einschaltet – normalerweise, wenn man sieht, dass eine Erinnerung wenig plausibel oder sogar unmöglich ist –, darauf hoffen, die falschen Erinnerungen wieder los zu werden, die unbemerkt ins Gedächtnis gelangt sind. Das Metagedächtnis ist etwas Wunderbares, das den Menschen helfen kann, Fakten und Fiktion zu unterscheiden, das aber auch seine Schwächen hat. Julia Shaw stellt klar, dass die Gedächtnisforschung in keiner Weise die These vertritt, dass Ereignisse der frühen Kindheit unwichtig sind, nur weil man sich nicht an sie erinnern kann.

Die frühesten Jahre der Kindheit sind natürlich von fundamentaler Bedeutung für die Entwicklung des Gehirns und der Persönlichkeit sowie für die allgemeine kognitive Entfaltung. Leidvolle Erfahrungen in der Kindheit können selbst dann, wenn man sie vor einer Zeit macht, an die man sich als Erwachsener bewusst erinnern kann, dauerhafte Wirkungen haben. Der Arzt Jack Shonkoff und seine Kollegen schreiben: „Frühe Erfahrungen und Umwelteinflüsse können eine dauerhafte Signatur in den genetischen Prädispositionen hinterlassen, die die in Entwicklung begriffene Architektur des Gehirns und die Langzeitgesundheit beeinflussen können.“ Quelle: „Das trügerische Gedächtnis“ von Julia Shaw

Von Hans Klumbies