Das Kurzzeitgedächtnis kann Informationen 30 Sekunden behalten

Frühe Erinnerungen an die Kindheit sind physiologisch gesehen sehr anfällig für Verzerrungen. Wenn Wissenschaftler über die Reifung des Gedächtnisses sprechen, also über die Veränderung des Gedächtnisses im Laufe des Älterwerdens, sprechen sie typischerweise getrennt über die Veränderungen im Kurzzeitgedächtnis und im Langzeitgedächtnis. Julia Shaw erklärt: „Das Kurzzeitgedächtnis ist ein System im Gehirn, das kleine Informationsmengen für kurze Zeit behalten kann. Sehr kurze Zeit – nur ungefähr 30 Sekunden.“ Wenn man sich beispielsweise eine Telefonnummer merken will und sie im Stillen so lange vor sich hersagt, bis man sie wählt – sie also in der sogenannten phonologischen Schleife speichert – dann benutzt man sein Kurzzeitgedächtnis. Dieses System kann nicht viel Gedächtnisinhalt aufnehmen. Die Rechtspsychologin Julia Shaw lehrt und forscht an der London South Bank University.

Das Gehirn bündelt Informationen aktiv oder passiv in Portionen

Die Anzahl der Informationseinheiten, die ein Mensch im Arbeitsgedächtnis behalten kann, liegt bei sieben plus/minus zwei. Forscher konnten zeigen, dass Säuglinge und Kleinkinder eine gewisse Fähigkeit zur Kurzzeitspeicherung haben, wenn auch weniger als Erwachsene. Ihre Gedächtnisstrategie scheint generell anders zu sein – weniger im Hinblick auf die grundlegende Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses als im Hinblick darauf, wie sich Kinder ihrer Umgebung annähern. Generell hat das menschliche Gehirn die erstaunliche Fähigkeit, Informationen aktiv oder passiv in Portionen zu bündeln.

Je mehr Menschen Ideen oder Begriffe zu Portionen bündeln können, desto eindrucksvoller wird ihr Arbeitsgedächtnis. Das ist eine der Fähigkeiten, die mit dem Alter zunehmen; wenn man mehr Erfahrung im Umgang mit der Welt und ihrer Deutung gewinnt, wird man im Bündeln von Informationen erheblich besser. Das heißt, dass Menschen Dinge besser im Arbeitsgedächtnisbehalten können als in der Kindheit und dass Kinder darin schon besser sind als Säuglinge, weil sie in den ersten Jahren Reize nur in geringerem Maße gleichzeitig verarbeiten können.

Das Langzeitgedächtnis umfasst das episodische und das semantische Gedächtnis

Julia Shaw betont, dass das Kurzzeitgedächtnis in der Tat sehr kurz ist, dass aber auch Langzeitgedächtnis nicht unbedingt heißen muss, es sei sehr lang. Gedächtnisforscher verstehen unter „Langzeit“ alles, was länger als 30 Sekunden im Gedächtnis bleibt. Der Begriff umfasst jedoch auch Erinnerungen, die ein Mensch hat, bis er stirbt – also auch das episodische Gedächtnis für Ereignisse und das semantische Gedächtnis für Faktenwissen. Die Erinnerung an die frühe Kindheit gehört zu den meistuntersuchten Bereichen in der Gedächtnisforschung.

Dabei sind sich die Wissenschaftler im Allgemeinen einig, dass das magische Alter, in dem Menschen mit der Bildung von Erinnerungen beginnen können, die bis ins Erwachsenalter erhalten bleiben, bei dreieinhalb Jahren liegt. Warum ist das so? Weil für die Erinnerung notwendige Gehirnstrukturen noch unterentwickelt sind und zudem für Kinder unter drei Jahren noch alles neu, aufregend und unbekannt ist. Julia Shaw erläutert: „Sie wissen nicht, was wichtig ist, und sie haben nicht die Struktur – und die Sprache –, um die Welt als sinnvoll zu begreifen, und schon gar nicht die kognitiven Fähigkeiten, die für eine Verarbeitung notwendig wären.“ Quelle: „Das trügerische Gedächtnis“ von Julia Shaw

Von Hans Klumbies

Schreibe einen Kommentar